Twittern will das BAG nicht, aber bei Vorschlägen zu virtuellen Gerichtsverhandlungen in der Coronazeit ist seine Präsidentin vorne mit dabei: Für ihre Digitalisierungsvorschläge gab es Kritik, mit der Ingrid Schmidt fest gerechnet hat.
LTO: Frau Schmidt, Sie haben ein Eckpunktepapier erarbeitet, das als vermeintliche Initiative der Arbeitsgerichtsbarkeit an die Öffentlichkeit gelangt ist. Wie ist dieses Papier entstanden?
Es war absehbar, dass sich die bundesweit geltenden Ausgangsbeschränkungen auf die Arbeit des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und der Arbeitsgerichtsbarkeit der Länder auswirken würden. Da fühle ich mich verantwortlich, mir Gedanken darüber zu machen, ob und wie die Kontinuität der Rechtspflege gesichert und die Arbeit der Gerichte fortgesetzt werden kann. Daraus ergibt sich die Frage, was das geltende Recht zulässt und wie befristete Änderungen des Prozessrechts Entlastung schaffen können, um die schwierige, so nie dagewesene Situation in den Griff zu bekommen.
In Bezug auf das BAG liegen die Probleme auf der Hand, ich habe mich zudem mit vielen meiner Kollegen dazu austauschen können. Darüber hinaus maße ich mir natürlich nicht an, für die Arbeitsgerichtsbarkeiten der Länder zu sprechen, da sind deren Präsidentinnen und Präsidenten prädestinierter. Aber es wäre auch nicht meine Art, nur das BAG in den Blick zu nehmen und den Rest zu ignorieren. Ich habe mich dazu natürlich nicht in den akademischen Elfenbeinturm begeben, sondern habe mit Kollegen aus den Ländern gesprochen. Viele dieser Gespräche sind in das Eckpunktepapier eingeflossen.
LTO: Was sind aus Ihrer Sicht die drängendsten Probleme für die Arbeitsgerichtbarkeit in der aktuellen Lage?
Erst einmal bin ich beruhigt, aus der Arbeitsgerichtsbarkeit zu erfahren, dass die Rechtsantragsstellen besetzt sind und der einstweilige Rechtsschutz durch entsprechende Diensteinteilungen lückenlos gewährleistet ist.
Aber der Sitzungsbetrieb ist natürlich überall heruntergefahren worden. Das Abstandsgebot zwingt die Gerichte dazu, anders mit den Verfahren umzugehen - und das ist an den einzelnen Gerichten eben nur sehr unterschiedlich umsetzbar. Bei uns am BAG ist das zum Beispiel sehr einfach, an kleinen Arbeitsgerichten mit kleineren Räumen eher nicht.
"Schriftliche Verfahren für die Arbeitsgerichte wie am BVerfG und am EuGH"
LTO: Welche Probleme stellen sich sonst noch?
Am BAG stellt sich etwa das Problem, dass die in einigen Verfahren notwendigen ehrenamtlichen Richterinnen und Richter aus dem ganzen Bundesgebiet kommen. Eine jeweils vierstündige An- und Abreise plus Verhandlung in einem Revisionsverfahren ist da schlichtweg an einem Tag nicht möglich. Eine Übernachtung und Versorgung vor Ort aber auch nicht.
Um also unsere Funktionsfähigkeit zu sichern, müssen am BAG mehr Möglichkeiten für ein schriftliches Verfahren von Amts wegen geschaffen werden, da genügt der dies bereits erlaubende § 128 Zivilprozessordnung (ZPO) nicht, weil die Norm die Zustimmung der Parteien erfordert.
Auch wenn die Anreisewege der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter in den jeweiligen Ländern kürzer sind, könnte der Einsatz des schriftlichen Verfahrens die mit der Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung verbundene Infektionsgefahr für alle Beteiligten verringern
Das schriftliche Verfahren ist am Bundesverfassungsgericht erprobt und wird neuerdings auch am Europäischen Gerichtshof eingesetzt. Den Arbeitsgerichten fehlt es dafür an geeigneten gesetzlichen Voraussetzungen, die der Gesetzgeber aber leicht für eine befristete Zeit schaffen könnte.
LTO: Sie haben auch vorgeschlagen, per Videotechnik zu verhandeln und die Öffentlichkeit auszuschließen. Was hat es mit diesem Vorschlag auf sich?
Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist darauf angewiesen, viele Streitigkeiten im Wege des Vergleichs zu erledigen. Bundesweit werden lediglich sechs bis sieben Prozent der Verfahren streitig entschieden, bis zu 74 Prozent hingegen durch Vergleich beendet. Also braucht man eine Güteverhandlung und die Frage ist, wie man diese in Coronazeiten führt. Aktuell sind die meisten Gerichtssäle nämlich nicht dafür ausgestattet, eine Verhandlung per Videotechnik zu führen, so wie sich das die Regelung des § 128a ZPO vorstellt.
Zudem dürfen die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter nicht zugeschaltet werden, sondern müssen sich gemeinsam mit der oder dem Vorsitzenden im Gerichtssaal aufhalten. § 128a ZPO löst das derzeitige Problem also nur bedingt. Daher kam meine Anregung, das erforderliche Rechtsgespräch unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit vereinfachter Videotechnik zu führen.
Das Gebot der Öffentlichkeit ist ein Rechtsstaatsgebot, aber der Justizgewährleistungsanspruch, wonach den Menschen in vertretbarer Zeit zu ihrem Recht verholfen werden soll, ist der andere. Vom Grundsatz der Öffentlichkeit gibt es im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sehr viele Ausnahmemöglichkeiten: den Persönlichkeitsschutz, Schutz des Steuer- oder Geschäftsgeheimnisses, im öffentlichen Interesse, in Familiensachen oder zum Zeugenschutz.
Auch für Güteverhandlungen erlaubt es § 52 S. 3 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG), die Öffentlichkeit aus Zweckmäßigkeitsgründen auszuschließen. Allerdings muss die Richterin oder der Richter die Öffentlichkeit wiederherstellen, wenn in eine Kammerverhandlung übergeleitet werden soll. Hier haben wir das gleiche Problem wie mit dem angesprochenen schriftlichen Verfahren: Auch diese Regelung hilft uns in der Pandemie meiner Meinung nach nicht weiter.
Kritik am Ausschluss der Öffentlichkeit: "Das ist etwas Relatives"
LTO: Die Kritik an den Vorschlägen war aber gerade in Hinblick auf den Ausschluss der Öffentlichkeit erheblich. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?
Die Aufregung um den Ausschluss der Öffentlichkeit ist etwas künstlich. Die Öffentlichkeit ist doch etwas Relatives, es gibt zahlreiche Ausnahmen. Es geht darum, das öffentliche Vertrauen in die Rechtspflege zu stützen, die öffentliche Kontrolle vor allem durch die Medien sicherzustellen, die Unabhängigkeit der Entscheidungsfindung zu sichern.
Ich finde, wenn man für eine befristete Zeit zur Umsetzung des Justizgewährleistungsanspruches eine Ausnahme von diesem Grundsatz macht, ist das bei Abwägung aller Belange, die das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes ausmachen, für eine gewisse Zeit hinnehmbar. Rechtssicher lässt sich das nur mittels Gesetz regeln. Und merkwürdigerweise ist bei den vielen alternativen Streitbeilegungsverfahren - deren Nutzung gerade jetzt wieder stark propagiert wird - der damit verbundene Ausschluss der Öffentlichkeit das Markenzeichen, aber kein Makel.
LTO: Stellt sich die Problematik im Arbeitsrecht im Besonderen oder halten Sie die Vorschläge für übertragbar auf die anderen Gerichtsbarkeiten?
Für die anderen Gerichtszweige bin ich keine Expertin, aber je länger die Situation andauert, desto stärker werden sich auch dort Probleme auftun. Im sozialgerichtlichen Verfahren zeichnet sich das jetzt bereits ab.
Die Problematik der Sicherstellung von Rechtsschutz durch Gerichte stellt sich zunächst dort, wo es um existenzsichernde Dauerschuldverhältnisse geht. Das ist im Arbeitsrecht typischerweise der Fall. Da braucht es schnelle Klarheit, ob ein Rechtsverhältnis weiter besteht - oder eben nicht, ob der Lohn korrekt bezahlt worden ist oder eben nicht.
LTO: Nicht alle Arbeitsgerichte haben die technischen Möglichkeiten, um Ihre Vorschläge umzusetzen. Was sagen Sie diesen Richtern?
Aus der öffentlichen Reaktion war erkennbar, dass es Landesarbeitsgerichtspräsidenten gibt, die meinen, es braucht keine Möglichkeit zu virtuellen Verhandlungen. Mir geht es darum, zusätzliche Möglichkeiten zu schaffen - nicht mehr, nicht weniger. Es gibt Kollegen, die haben die Technik und würden sie auch nutzen. Allein das ist es doch schon wert, initiativ zu werden.
Andere würden die Möglichkeiten nicht nutzen und ein anderes Prozessmanagement betreiben. Jede dieser Entscheidungen geschieht in richterliche Verantwortung und wird gedeckt durch richterliche Unabhängigkeit. Dazu gehört auch, sich Gedanken darüber zu machen, wie während der Verhandlung und im Sitzungssaal der Infektionsschutz gewährleistet werden kann. Dazu bieten sich eine Reihe von Möglichkeiten an: Verhandlungen können zeitlich weiter auseinander terminiert werden, die Bestuhlung dem Abstandsgebot entsprechend angepasst werden. Prozessmanagement kann nicht mehr wie bisher auf die mündliche Verhandlung konzentriert werden, sondern muss im Vorfeld, etwa mittels schriftlicher Vergleichsvorschläge und begleitendender Telefonate erfolgen. Diese Aufzählung ist keineswegs erschöpfend.
"Natürlich geht es nicht darum, Online-Gerichte zu etablieren"
LTO: Die Präsidenten der Landesarbeitsgerichte stehen nicht geschlossen hinter Ihrem Vorstoß. Wie sinnvoll war unter dieser Prämisse Ihr Vorstoß mit dem Eckpunktepapier?
Es war klar, dass nicht alle Präsidentinnen und Präsidenten die Vorschläge unterstützen, das wäre ja auch etwas Merkwürdiges. Es geht ja nicht darum, etwas Alternativloses zu präsentieren, sondern darum, eine Diskussion anzustoßen, wie wir unserer Verantwortung als Gerichtspräsidentinnen und -präsidenten gerecht werden können. Dafür gibt es Möglichkeiten im bestehenden Prozessrecht und Möglichkeiten darüber hinaus, die es auszuloten gilt. Dem Gesetzgeber obliegt es dann, das umzusetzen.
Die Gesetzesvorschläge zu diskutieren, ist gelebte Demokratie. Aber alle unter einen Hut zu bekommen ist schon wegen der unterschiedlichen Verhältnisse schwierig - und vielleicht auch gar nicht notwendig.
Fest steht, dass alle Maßnahmen zeitlich beschränkt sein und immer wieder am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemessen werden müssen. Am Ende kann man trotzdem zu der Auffassung kommen, dass einige Regelungen ganz sinnvoll sind und sie dauerhaft behalten. Genau wie man über eingefahrene und teilweise auch sinnentleerte Rituale oder die Bedingungen eines Zivilprozesses diskutieren können muss.
Das gesamte Prozessrecht muss wegen der eAkte und dem elektronischen Rechtsverkehr ohnehin an die fortschreitende Digitalisierung angepasst werden. Nur ein Beispiel: Warum kann die Verkündung nicht über die Veröffentlichung des Tenors auf einer Homepage geschehen? Ich bin eine große Freundin des persönlichen Gesprächs, mein Ziel ist also sicher nicht, Online-Gerichte zu etablieren. Aber die Digitalisierung anzunehmen und den Justizgewährungsanspruch auch in einer Pandemie umzusetzen, darum geht es.
LTO: Erwarten Sie nach der medialen Diskussion, dass es überhaupt zu einem Gesetzentwurf und Gesetzänderungen im ArbGG kommen wird?
An mir hat es nicht gelegen, die Diskussion in die Öffentlichkeit zu tragen, das haben andere getan. Aber ich scheue die Diskussion nicht. Ob es zu Gesetzesänderungen kommt, weiß ich nicht. Ich habe meinen Vorstoß gemacht und jetzt liegt es am Bundesarbeitsministerium.
LTO: Frau Schmidt, vielen Dank für das Gespräch.
Interview mit BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt: . In: Legal Tribune Online, 08.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41249 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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