Europa ist zu Recht stolz auf sein Rechtssystem zum Schutz der Menschenrechte. Aber das kostet auch was. Ein Blick auf die Zahlen und alternative Einnahmequellen.
Der Europarat droht langsam aber sicher in Geldnot zu geraten. Zwei Mitgliedstaaten halten ihre Beiträge nun schon seit über einem Jahr ganz oder teilweise zurück. Fortgang ungewiss. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – ein wichtiger Teil des Europarates – blieb bislang von den finanziellen Nöten des Mutterhauses relativ unberührt. Das könnte sich ändern. Allerdings haben die Straßburger Richter da noch etwas in der Hinterhand.
Seit Mitte 2017 fällt Russland als Beitragszahler – ursprünglich einer von fünf großen Zahlern neben Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien – aus. Allein dadurch fehlen dem Europarat jährlich rund 33 Millionen Euro. Das sind fast zehn Prozent des Gesamtbudgets. Ab 2016 zählte auch die Türkei zu den großen Beitragszahlern. Ankara beendete die freiwillige Verpflichtung jedoch schon nach zwei Jahren wieder. Seit 2018 zahlt das Land nur noch wie zuvor 14 Millionen Euro statt der zwischenzeitlichen 34 Millionen.
Hintergrund für den Streit ums Geld sind jeweils Konflikte in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. So hatte das Gremium, das sich aus nationalen Abgeordneten der Mitgliedstaaten zusammensetzt, die Türkei 2017 nach 13 Jahren wieder unter volle Beobachtung gestellt - aus Sorge um die Demokratie in dem Land und sehr zum Missfallen Ankaras. Den russischen Abgeordneten wurde das Stimmrecht entzogen - als Sanktion für die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim. Russische Abgeordnete nehmen seitdem nicht mehr an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung teil. Und Moskau sieht nicht ein, warum es dann noch für die internationale Organisation Mitgliedsbeiträge zahlen sollte.
"Das Geld geht uns aus"
Im Europarat schlägt man deshalb nun schon seit Monaten Alarm. Bau- und IT-Maßnahmen wurden aufgeschoben, Verträge nicht verlängert. Sollte die Situation andauern müssten über drei Jahre rund 250 Stellen abgebaut werden, sagt Sprecher Daniel Höltgen.
Beim bloßen Blick auf die Zahlen, lässt sich die Unruhe kaum nachvollziehen: Verglichen mit den Jahren 2014/2015 ist das Gesamtbudget des Europarats sogar gestiegen. Und auch den EGMR scheinen die ausbleibenden Zahlungen aus Russland und der Türkei nicht zu tangieren. Für 2018 und 2019 wird dem Gerichtshof ein Budget von jeweils rund 70 Millionen Euro zugewiesen. Gut, 2017 und 2016 waren es jeweils um die zwei Millionen mehr. Dafür lässt sich aber auch hier der Vergleich mit 2014/2015 sehen: Damals musste der EGMR mit 68 beziehungsweise 69 Millionen Euro auskommen. Man kann also sagen: So um die 70 Millionen hatten die Straßburger Richter und ihre Mitarbeiter zuletzt jedes Jahr zur Verfügung.
Und in der Tat - bisher habe der Europarat die ausgefallenen Zahlungen ausgleichen können, sagt Höltgen. Den Gerichtshof schonte man bei alldem sowieso. Seine Arbeit sei "absolut prioritär". "Wir haben versucht den EGMR soweit wie möglich herauszuhalten." Doch damit sei jetzt Schluss. "Jetzt wird es ernst. Das Geld geht uns aus. Wir müssen uns auf den worst case einstellen und über elf Prozent einsparen." Der worst case: Russland zahlt dauerhaft nicht mehr. Momentan heißt das im Europarat: Befristete Verträge laufen nur noch bis Juni 2019. Es werden keine Zusagen für eine Verlängerung gemacht.
Beim EGMR spart man an Druckkosten, übersetzt nur noch, wenn es absolut notwendig ist, verkürzt die Bibliothekszeiten, abonniert weniger Fachzeitschriften. Frei werdende Stellen bleiben unbesetzt. "Der Gerichtshof ist verpflichtet zum Bemühen des Europarats beizutragen, die Einbußen auszugleichen", sagt Roderick Liddell von der Geschäftsstelle. Wenn es nun aber ernst werden sollte mit dem Sparen und auch das Budget des Gerichtshofs spürbar gekürzt wird, dann wird es dort schnell an die Substanz gehen. 95 Prozent der Ausgaben gehen für Gehälter drauf. Bei Druckkosten und Fachzeitschriften werden sich also keine Summen einsparen lassen, die ins Gewicht fallen.
"Wenn wir bedeutsamere Einschnitte machen müssen, dann wird das unsere Fähigkeit beeinträchtigen, weiterzumachen mit der Arbeit, Rückstände abzubauen und Fälle schneller zu bearbeiten", sagt Liddell. "Es wird also letztendlich Auswirkung haben, wenn wir die Belegschaft reduzieren müssen."
"Special account" eingerichtet
Soweit die düstere Warnung für die Zukunft von der Geschäftsstelle. Gerichtspräsident Guido Raimondi hat dem aber noch etwas hinzuzufügen: Man möge sich an den "special account" des Gerichtshofs erinnern - eine Art Spendenkonto, eingerichtet 2012 für freiwillige Beiträge der Mitgliedstaaten. Mit dem eingegangenen Geld wurden damals Mitarbeiter eingestellt, die sich der angesammelten Rückstände annehmen sollten. Und zum Glück erinnerten sich manche Mitgliedsstaaten in der Krise wieder ganz gut an dieses Konto.
2017 und 2018 sind einer Gerichtssprecherin zufolge die Eingänge auf dem Konto deutlich gestiegen. Besonders großzügig zeigten sich Deutschland und Norwegen: Berlin überwies 2018 eine Million Euro, Oslo immerhin fast eine halbe Million. Raimondi dankt recht herzlich. Selbst die Türkei gesellte sich zu den freiwilligen Spendern mit knapp 69.000 Euro. Aus Russland kam dagegen konsequenterweise nichts.
Manche Länder machen auch Vorgaben, wie ihre Spende verwendet werden soll. So sind etwa die Videos mündlicher Verhandlungen, die im Internet zur Verfügung stehen, "funded by" Irland.
Für die einzelnen Staaten geht es dabei nicht um enorme Summen. Eine Million Euro wird im Gesamthaushalt Deutschlands kaum ins Gewicht fallen. Er könne sich vorstellen, dass Staaten dem Gerichtshof auf diesem Weg weiterhin helfen könnten, sagt Raimondi. Mitgliedstaaten könnten dem Gerichtshof außerdem unterstützen, indem sie nationale Richter abordneten. Baden-Württemberg und der Bund finanzieren zudem beispielsweise zusammen die Stelle der deutschen Pressesprecherin.
Der Gerichtshof wird sich also wohl trotz weiter hoher Arbeitslast – 56.350 Beschwerden warteten Ende 2018 auf eine Bearbeitung – über Wasser halten. Dennoch laufen derzeit Gespräche über eine Neuausrichtung des Europarates und die Anpassung an einen weiteren Zahlungsausfall. Eine Grundsatzentscheidung soll spätestens beim Treffen der Außenminister in Helsinki am 17. Mai fallen. Dabei hofft man weiter auf eine Lösung mit Russland - also darauf, dass der Zahlungsausfall ein temporärer bleibt.
EGMR bald für Russland nicht mehr zuständig?
Sollte es wirklich nicht bei einem temporären Zahlungsstopp bleiben, sondern zu einem Abschied Russlands aus dem Europarat kommen, werden die europäischen Institutionen selbst das wohl verkraften. Direkte Auswirkungen hätte ein solcher Schritt aber für die russische Bevölkerung. Der EGMR wäre dann nämlich für ihre Beschwerden gegen Moskau nicht mehr zuständig. Anhängige Beschwerden sowie solche die in den sechs Monaten nach einem Austritt eingehen, würden zwar noch bearbeitet. Aber irgendwann wäre Schluss.
Dabei ist Russland nach wie vor eines der Länder, die die Straßburger Richter am meisten beschäftigen. Ende 2018 waren über 11.700 Beschwerden gegen Russland anhängig - das sind fast 21 Prozent aller anhängigen Verfahren. "Eine enorme Zahl", sagt Gerichtspräsident Raimondi. Hinzu kommt, dass relativ häufig eine Menschenrechtsverletzung festgestellt wird – im vergangenen Jahr kassierte Russland 238 Verurteilungen. Die hohen Zahlen hängen selbstverständlich auch mit der Größe des Landes zusammen.
Gerichtspräsident Raimondi sieht darin aber auch einen Vertrauensbeweis der russischen Bevölkerung in den europäischen Menschenrechtsschutz. Ein Austritt Russlands aus dem Europarat wäre deshalb "vraiment dommage", also "sehr schade“.
Finanzkrise beim Europarat: . In: Legal Tribune Online, 25.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33469 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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