EU-Kommission legt Rechtsstaatsbericht vor: Kür­zung von EU-Gel­dern für Ungarn und Polen?

20.07.2021

Polen und Ungarn schneiden beim Prüfbericht zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Kommission schlecht ab. Droht ihnen jetzt eine Kürzung von EU-Geldern?

Ungarn und Polen müssen nach der Veröffentlichung eines neuen Prüfberichts der Europäischen Kommission etwaige Verfahren zur Kürzung von EU-Geldern befürchten. In der jetzt vorgestellten Untersuchung zur Einhaltung rechtsstaatlicher Standards werden den beiden Mitgliedsstaaten Defizite bei der Unabhängigkeit der Justiz und bei der Korruptionsbekämpfung attestiert.

Mit Blick auf Ungarn ist dabei unter anderem von unzureichenden unabhängigen Kontrollmechanismen und einem mangelnden Vorgehen gegen Klientelismus und Vetternwirtschaft die Rede. Zu Polen heißt es, es gebe Risiken hinsichtlich der Wirksamkeit der Bekämpfung von Korruption auf hoher Ebene, einschließlich der Gefahr eines unzulässigen Einflusses auf die Strafverfolgung zu politischen Zwecken. "In einer Reihe von Mitgliedstaaten gibt es Anlass zu ernster Besorgnis", so die zuständige Vizepräsidentin der Kommission, Vera Jourova. Insbesondere sei dies in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz der Fall.

Relevant sind die Befunde, weil Staaten seit diesem Jahr bei bestimmten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit EU-Gelder gekürzt werden können. Voraussetzung ist, dass wegen dieser Verstöße ein Missbrauch von Geldern aus dem Gemeinschaftshaushalt droht. In Ungarn und Polen könnte diese Voraussetzung nach dem Bericht erfüllt sein, weil eine unzureichende Korruptionsbekämpfung das Risiko birgt, dass EU-Gelder veruntreut werden. Aus der EU-Kommission hieß es am Dienstag, dass es für die Einleitung von Verfahren für Mittelkürzungen eine gesonderte Untersuchung brauche. Der jetzt vorgelegte Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in der EU könne aber eine Grundlage dafür sein. Nach früheren Angaben sollen die ersten Verfahren noch in diesem Herbst eingeleitet werden.

Es geht um mehrere Milliarden Euro

Für Ungarn und Polen könnte es um erhebliche Summen gehen. Aus dem regulären EU-Haushalt erhielt Polen zuletzt mehr als 12 Milliarden Euro pro Jahr. Zudem sind für das Land derzeit rund 23,9 Milliarden Euro an Corona-Hilfen einkalkuliert. Ungarn bekam zuletzt rund 6 Milliarden Euro pro Jahr aus den Haushalt und kann eigentlich mit rund 7,2 Milliarden Euro an Corona-Hilfen rechnen.

Europaabgeordnete forderten, auf Grundlage des Berichts nun schnell Schritte gegen Ungarn und Polen einzuleiten. "Wenn wir verhindern wollen, dass sich Ungarn und Polen weiter zu Autokratien entwickeln, muss die EU-Kommission die Auszahlung von EU-Geld an Warschau und Budapest unmittelbar stoppen", kommentierte Daniel Freund, Grünen-Politiker im Europäischen Parlament.

Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), äußerte sich ähnlich, mahnte allerdings Kürzungen mit Augenmaß an. "Wichtig dabei ist, dass diese Maßnahmen in erster Linie die Regierungen treffen und nicht die Bevölkerung", sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Auch in Deutschland gibt es Verbesserungsbedarf

Polen und Ungarn wehren sich derzeit bereits mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen das neue EU-Instrument für Mittelkürzungen. Sie gehen davon aus, dass der sogenannte Konditionalitätsmechanismus nicht mit dem geltenden EU-Recht vereinbar ist. So dürfen aus polnischer Sicht für die Vergabe von Geld aus dem EU-Haushalt einzig "objektive und konkrete Bedingungen" gelten. Die EU habe keine Befugnis, den Begriff "Rechtsstaat" zu definieren, heißt es weiter. Die Vorwürfe zu Defiziten in der Rechtsstaatlichkeit werden zudem kategorisch zurückgewiesen.

Im Gegensatz zu Ungarn und Polen muss die Bundesrepublik vorerst keinen Ärger wegen rechtsstaatlicher Defizite befürchten. "Das Justizsystem funktioniert weiterhin effizient", heißt es im Deutschland-Kapitel des sogenannten "Rechtsstaats-TÜV". Verbesserungsbedarf wird aber in Bereichen wie Transparenz gesehen. Kritisiert wird weiterhin eine zunehmende Verkürzung von Gesetzgebungsverfahren, wobei Interessenvertreter weniger zu Wort kämen. Zwar gebe es einen gut funktionierenden rechtlichen Rahmen für die Pressefreiheit und Meinungsvielfalt, aber physische Übergriffe auf Journalisten seien besorgniserregend, so der Bericht. Weitere Themen sind wie schon im letzten Jahr der Europäische Haftbefehl sowie das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wogegen sich die Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren richtet.

Der für Justiz zuständige EU-Kommissar Didier Reynders erklärte zur Vorlage des Prüfberichts, dass dieser im Idealfall positive Reformen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit fördere, zumindest aber ehrliche und offene Gespräche anrege. Er selbst habe den Bericht aus dem vergangenen Jahr auch in 20 nationalen Parlamenten erörtert, sagte der Belgier.

Ultimatum aus Brüssel für Polen wegen EuGH-Streit

Außerdem hat die EU-Kommission am Dienstag Polen im Streit über die Umsetzung eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs ein Ultimatum gesetzt. Sollte das Land Vorgaben des höchsten europäischen Gerichts zu einer umstrittenen Disziplinarkammer nicht bis zum 16. August vollständig umsetzen, würden finanzielle Sanktionen beantragt, kündigte die Kommissionsvizepräsidentin Jourova, am Dienstag in Brüssel an. Sie könnten nach EU-Regeln zum Beispiel aus einem täglich zu zahlenden Zwangsgeld bestehen und würden vom EuGH auf Grundlage eines Vorschlags der Kommission festgesetzt werden.

Der EuGH hatte in der vergangenen Woche geurteilt, dass Polen mit seinem System zur Disziplinierung von Richtern gegen europäisches Recht verstößt. Die 2018 eingerichtete Disziplinarkammer am Obersten Gericht des Landes, die jeden Richter oder Staatsanwalt entlassen kann, bietet demnach nicht alle Garantien für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.

Für die nationalkonservative PiS-Regierung ist das Urteil höchst unangenehm, weil die Disziplinarkammer das Herzstück der Reformen des polnischen Justizsystems ist. Zu dem jetzt gestellten Ultimatum Jourovas schrieb Regierungssprecher Piotr Müller auf Twitter, Polen untersuche die von Brüssel vorgelegten Dokumente und verweise auf die Europäischen Verträge. "Sie beschreiben ganz direkt, welche Kompetenzen der EU übertragen werden, und welche ausschließlich Kompetenzen der Mitgliedstaaten bleiben." Die in Polen geltenden Regelungen ähnelten denen in anderen EU-Ländern.
 

jb/LTO-Redaktion

Mit Materialien der dpa

Zitiervorschlag

EU-Kommission legt Rechtsstaatsbericht vor: . In: Legal Tribune Online, 20.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45522 (abgerufen am: 12.11.2024 )

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