EuGH entscheidet über Vorlage aus Wiesbaden: Wie unab­hängig sind deut­sche Gerichte?

von Dr. Markus Sehl

08.07.2020

Ein Verwaltungsrichter aus Wiesbaden zweifelte an der Unabhängigkeit seines eigenen Gerichts und legte dem EuGH vor. Der wird nun entscheiden - und sich dabei wohl eher kurzfassen. Doch die nächste Vorlage ist schon eingegangen.

Eine wirklich spektakuläre Entscheidung wird es wohl nicht werden, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag zur Unabhängigkeit deutscher Gerichte treffen wird (Az. C-272/19). Vor gut einem Jahr hatte ein Einzelrichter am Verwaltungsgericht (VG) Wiesbaden dem EuGH eine Vorlagefrage übermittelt, die es in sich hat. "Handelt es sich bei dem vorlegenden Gericht um ein unabhängiges und unparteiisches Gericht"?

Man könnte die Ausführungen des Richters in seinem Beschluss so zusammenfassen: Arbeite ich eigentlich an einem unabhängigen Gericht in Deutschland? Gemeint ist das VG Wiesbaden, mitgemeint sind aber alle deutschen Gerichte. Denn dem Richter geht es um ein grundsätzliches Strukturprinzip der deutschen Justiz.

EuGH schickte Fragenkatalog nach Hessen

Der EuGH könnte nun mit der Vorlagefrage aber kurzen Prozess machen.Sonderlich beschäftigt hat er sich nämlich offenbar nicht mit ihr. Es gab keine mündliche Verhandlung und auch keine Schlussanträge des eigentlich dafür zuständigen EuGH-Generalanwalts Maciej Szpunar.

Nach Informationen von LTO hat der EuGH lediglichdem Land Hessen einen Katalog mit Fragen zur Einflussnahme der Politik auf die Justiz geschickt. Die EuGH-Richter hatten sich insbesondere für das Ernennungs- und Beförderungsverfahren der hessischen Richter interessiert. Diesen Fragenkatalog hat das Land beantwortet und zurückgeschickt. Danach sei es still geworden, heißt es aus Justizkreisen.

Eingekleidet hatte der VG-Richter seine Vorlagefrage in einen Datenschutzfall. Gegner des Verwaltungsrechtsstreits ist das Land Hessen. Der Richter befürchtete offenbar, dass die Struktur der deutschen Justizverwaltung der Politik die Gelegenheit verschaffen könnte, einmal auf ein Verfahren Einfluss zu nehmen. Den juristischen Aufhänger für seine Frage nach der Unabhängigkeit lieferte dem Wiesbadener Einzelrichter die Formulierung "Gericht" in Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) - denn nur ein solches kann dem EuGH vorlegen.

Die Vorlage trägt einen justizpolitischen Klassiker nach Luxemburg

Für die Frage, ob es sich bei einer nationalen Einrichtung um ein "Gericht" handelt, komme es nach der Rechtsprechung des EuGH maßgeblich auf dessen Unabhängigkeit an, so die Vorlage aus Wiesbaden. Die bestünde zum einen aus der Autonomie und der hierarchischen Unabhängigkeit der Einrichtung und andererseits aus der Unparteilichkeit.

Die "nationale Verfassungslage", so der Beschluss weiter, gewährleiste aber "nur die funktionale richterliche Unabhängigkeit, nicht aber eine institutionelle Unabhängigkeit der Gerichte". Immerhin würden die Richter von den Justizministern der Länder ernannt und von ihnen auch befördert. Auch die Beurteilung der Richter regele das Ministerium und auf die Richter fände Beamtenrecht Anwendung.

Die Vorlage aus Wiesbaden trägt einen justizpolitischen Klassiker nach Luxemburg. Seit vielen Jahren ist die Selbstverwaltung der Justiz den deutschen Richterverbänden ein Anliegen. Der größte deutsche Zusammenschluss von Richtern und Staatsanwälten, der Deutsche Richterbund, nannte das Vorlageverfahren einen Einzelfall. Ein Sprecher des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung hatte zumindest auf eine nähere Auseinandersetzung mit der Unabhängigkeitsfrage durch den EuGH gehofft.

Die nächste Vorlage zur Unabhängigkeit deutscher Gerichte liegt schon beim EuGH

Die Vorlage des Wiesbadener Verwaltungsrichters ist nicht die einzige aus Deutschland. Erst vor wenigen Wochen legte ein Richter am Landgericht (LG) Erfurt ein Verfahren zum Schadensersatz wegen unzulässiger Abschaltvorrichtungen im Dieselskandal dem EuGH vor.

Ein Sprecher des EuGH bestätigte nun den Eingang des Vorabersuchens am 24. Juni 2020 (Az. C-276/20). Der vorlegende LG-Richter befürchtet eine politische Einflussnahme aus der Justizverwaltung auf die Bearbeitung der Dieselfälle. Seine zweite Frage an den EuGH: "Handelt es sich bei dem vorlegenden Gericht um ein unabhängiges und unparteiisches Gericht"? Noch eine Gelegenheit für den EuGH, sich mit den Besonderheiten der deutschen Justizverwaltung vertraut zu machen.

Zitiervorschlag

EuGH entscheidet über Vorlage aus Wiesbaden: . In: Legal Tribune Online, 08.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42140 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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