In der Türkei brauchen immer mehr Anwälte selbst einen Verteidiger, sie werden verfolgt oder inhaftiert. Zum EGMR dringen die Verfolgten aber bislang nicht durch. In Berlin berieten Juristen Strategien für den direkten Weg nach Straßburg.
Wie hoch die Zahlen ganz genau sind, weiß niemand: nicht Wissenschaftler in der Türkei, nicht Anwaltsgruppen vor Ort und auch nicht die UN. Aber die Größenordnung reicht für einen Eindruck vom Zustand der türkischen Justiz aus.
Seitdem die Regierung um Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Türkei den Ausnahmezustand verhängt hat, sollen 1.500 türkische Anwälte strafrechtlich verfolgt, etwa 600 verhaftet worden sein. Rund 3.000 Richter und Staatsanwälte sollen ihre Posten verloren haben. Neben Journalisten und Oppositionspolitikern stehen die Anwälte im Visier. Auch der Verteidiger des Journalisten Deniz Yücel geriet selbst in die Strafverfolgung. "Die türkische Anwaltschaft ist in Gefahr", sagt Ümit Kılınç, Menschenrechtsanwalt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg.
Kılınç, sagte bei einer Veranstaltung des Deutschen Anwaltvereins (DAV) in Berlin, man könne grob drei Gruppen unter den bedrohten Anwälten ausmachen. Die Gefahr knüpfe sich an die Mandanten, die vertreten werden. Betroffen seien Mandanten aus politisch linken Kreisen, kurdische Mandanten und Anhänger der Gülen-Bewegung. Letztere macht die türkische Regierung für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich.
Der Hebel für eine Strafverfolgung von Anwälten in der Türkei sei Art. 301 des Strafgesetzbuches, der das öffentliche Herabsetzen der türkischen Nation, des Staates oder der Regierung aber auch etwa der Justizorgane unter Strafe stellt. Daneben spiele auch Art. 216, der das öffentliche Anstacheln zu Hass bestraft, eine Rolle, so Kılınç.
Der Rechtsanwalt berichtete, dass unter den Anwälten in der Türkei nur noch wenig Vertrauen in das Justiz-System bestehe. Die letzte Hoffnung sei noch das türkische Verfassungsgericht, aber auch das drohe in wichtigen Entscheidungen von den Instanzgerichten einfach ignoriert zu werden. Zuletzt kam es Anfang 2018 zu einem offenen Kräftemessen, weil sich ein Strafgericht geweigert hatte, zwei Journalisten freizulassen.
"EGMR ist ständig überlastet"
Deshalb war der EGMR aus Sicht von Kılınç eine große Hoffnung für viele Menschen, auch Anwälte in der Türkei – aber deren Zutrauen schwinde. Der EGMR sieht zehntausende Fällen aus der Türkei auf sich zukommen und hat bisher regelmäßig Beschwerden abgelehnt und stattdessen die Beschwerdeführer auf die Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs verwiesen. Das mag für die Betroffenen zynisch klingen, stellen sie ja gerade in Zweifel, dass es in der Türkei noch einen effektiven Rechtsweg gibt.
Allerdings sei das strenge Pochen des EGMR auf diese Zulassungsvoraussetzung gewissermaßen auch seine eigene Überlebenssicherung, erläuterte Stefan von Raumer, auf EGMR-Verfahren spezialisierter Anwalt. Von Raumer führt die strenge Handhabung der Zulässigkeitsvoraussetzung durch den EGMR auf eine ständige Überlastung des Menschenrechtsgerichts seit 2011 zurück. "Die Wurzel des Problems hat nichts mit der Türkei zu tun", so der Anwalt. Damals seien 161.000 Fälle aus dem Vorjahr übrig geblieben, pro Jahr kamen 50.000 neue Verfahren neu ans Gericht. Deshalb habe sich das Gericht selbst schützen müssen.
Nach Kılınç gibt es für die strengen Zugangsvoraussetzungen bislang nur für betroffene Journalisten und Mitglieder des Parlaments Ausnahmen. Für Anwälte hat der EGMR das bislang noch nicht entschieden. "Das lässt die Menschenrechtsanwälte und auch die verfolgten Anwälte in Ungewissheit zurück", so Kılınç.
Anwalt von Raumer betont, dass der EGMR erst dann bereit wäre seine strengen Zulässigkeitsanforderungen zu durchbrechen, wenn eine Beschwerdeinstanz in einem Staat nur theoretisch aber nicht praktisch existiere. "Das Problem liegt aber darin, dass die Anwälte dem EGMR beweisen müssen, dass es sich um ein strukturelles Versagen handelt." Das habe der EGMR etwa für Fälle aus Serbien angenommen, wenn zwar eine Beschwerdeinstanz vorhanden war, aber sie nicht für bestimmte Rechtsakte galt.
Pilot-Verfahren als Lösung?
Einen weiteren Ansatz den EGMR mit der Situation der Anwälte in der Türkei zu beschäftigen, könnte in einem sogenannten Pilot-Verfahren liegen. Seit 2008 existiert dieses Verfahren, das für einen Pilot-Fall eine Musterentscheidung trifft und der dann Vorbild für unzählige rechtlich gleichgelagerte Fälle bildet, die dann in einem beschleunigten Verfahren beim EGMR entschieden werden.
Aber auch für einen Anwalts-Pilot-Fall, betonte von Raumer, braucht es nicht nur das Beweismaterial für den konkreten Einzelfall, sondern auch Statistiken und Nachweise dafür, dass die Beschwerdeverfahren in der Türkei systemisch nicht funktionieren.
Nach jüngsten türkischen Medienberichten sollen mehrere Anwälte in der Türkei in den Hungerstreik getreten sein. Anlass war für sie offenbar der "Day of the Endangered Lawyer" am 24. Januar, übersetzt der Tag des gefährdeten Anwalts.
"Der DAV ist erschüttert über die anhaltenden Verfolgungen und Inhaftierungen von Anwältinnen und Anwälten in der Türkei", sagte der Präsident des Deutschen Anwaltvereins Ulrich Schellenberg gegenüber LTO. "Dass nun fünf unserer inhaftierten Kolleginnen und Kollegen in den Hungerstreik treten, darunter der ehemalige Präsident des Progressiven Anwaltvereins CHD Selçuk Kozağaçlı, um auf die rechtsstaatlichen Missstände hinzuweisen, macht uns sehr betroffen."
Verfolgte Verteidiger vor dem EGMR: . In: Legal Tribune Online, 25.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33457 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag