Gesetzentwurf zu Massenverfahren: BGH wird Herr der Lei­t­ent­schei­dungs­ver­fahren

Gastbeitrag von Johanna Weißbach

11.10.2024

Eine bis zu fünfstellige Anzahl von Klagen mit immer demselben Sachverhalt: Derartige Massenverfahren überfordern die Gerichte. Der Bundestag hat ein Gesetz zur Regulierung vorgelegt. Johanna Weißbach mit einer Einschätzung des Entwurfs.

Klagen wegen Flugverspätungen, wegen möglicher Verletzungen des Datenschutzes oder von Anlegern: Eine oft fünfstellige Vielzahl von Einzelklagen, die einen ähnlichen oder gar identischen Sachverhalt und damit die gleichen Rechtsfragen betreffen, stellen seit Jahren eine Belastung für die deutsche Justiz dar. Der Bundestag hat mit dem Beschluss zur Einführung des Leitentscheidungsverfahrens nun einen weiteren Versuch unternommen, um diesen sogenannten Massenverfahren schneller und effizienter Herr zu werden. Noch ist das Gesetz nicht in Kraft. Der Bundesrat hat das Gesetz für die nächste Sitzung am 18. Oktober auf die Tagesordnung gesetzt. Die Verkündung im Bundesgesetzblatt wird im Anschluss nicht lange auf sich warten lassen. 

Denn auch wenn das deutsche Prozessrecht beispielsweise mit den Verbandsklagen (§ 1 Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz) und dem Verfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) bereits Möglichkeiten für die Bündelung von derartig gleichgelagerten Ansprüchen vorsieht, werden die Ansprüche oftmals in separaten Verfahren und über mehrere Instanzen am Wohnsitzgericht der Kläger geltend gemacht. Diese Einzelverfahren kosten insbesondere die Parteien und die Gerichte Zeit und Ressourcen.

Gesetzgeber, Politik und Justiz beschäftigen sich daher seit Jahren mit der Frage, ob und wie man die Verfahren effizient und ressourcenschonend gestalten kann. Im Zuge der Umsetzung der EU-Verbandsklagerichtlinie wurde zuletzt die Abhilfeklage eingeführt. Damit können qualifizierte Einrichtungen wie Verbraucherverbände bereits gebündelt Ansprüche von Verbrauchern und Kleinunternehmen verfolgen. 

Ablauf des Leitentscheidungsverfahrens

Der Gesetzgeber hat sich nun für ein Leitentscheidungsverfahren durch den Bundesgerichtshof (BGH) entschieden. Dies soll in Zukunft dazu beitragen, die unteren Zivilgerichte zu entlasten. Instanzgerichte, die mit ähnlichen Fällen befasst sind, sollen sich an einer frühzeitig getroffenen Leitentscheidung der höchsten Instanz orientieren können. 

Dazu kann der BGH ein bei ihm anhängiges Revisionsverfahren per Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen, so der neue § 552b der Zivilprozessordnung (ZPO). Die Auswahlentscheidung des BGH kann nach Eingang der Revisionserwiderung oder nach Ablauf eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung erfolgen. So ist sichergestellt, dass die Positionen beider Parteien Eingang in die Akte gefunden haben, bevor die Auswahl erfolgt. 

Der Auswahlbeschluss des BGH enthält eine Darstellung des Sachverhalts und der Rechtsfragen, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren relevant ist. Wie hoch diese Vielzahl an Parallelverfahren sein muss, konkretisieren Gesetz und Gesetzesbegründung nicht. Man darf aber wohl von mehreren hundert Verfahren ausgehen.

Der Beschluss zur Bestimmung eines Leitentscheidungsverfahrens ist unverzüglich zu veröffentlichen, laut Gesetzesbegründung soll dies über die Homepage des BGH oder per Pressemitteilung erfolgen. Die unteren Instanzen können daraufhin die bei ihnen anhängigen Parallelverfahren aussetzen, um die Entscheidung und Leitlinien des BGH abzuwarten. 

Keine Aussetzung nur bei gewichtigen Gründen

Der Bundestag hat, was die Aussetzung betrifft, Änderungen an dem ursprünglichen Gesetzesentwurf der Bundesregierung vorgenommen. Der Entwurf der Bundesregierung sah noch vor, dass die Instanzgerichte ein Verfahren nur mit Zustimmung beider dortiger Parteien aussetzen können. Dieses Zustimmungserfordernis erntete im Gesetzgebungsverfahren parteiübergreifend Kritik: Die Wirksamkeit des Leitentscheidungsverfahrens werde durch das Zustimmungserfordernis reduziert, wenn die Aussetzung von der Mitwirkung der Parteien abhängig gemacht würde.

Der vom Bundestag beschlossene Gesetzestext ist nun etwas weitgehender: Die Parteien sind vor der Aussetzung anzuhören – eigentlich eine Selbstverständlichkeit vor dem Hintergrund der Dispositionsmaxime. Eine Aussetzung hat in der Folge nur dann zu unterbleiben, wenn eine Partei widerspricht und hierfür gewichtige Gründe glaubhaft machen kann. Gewichtige Gründe können zum Beispiel eine bevorstehende Insolvenz einer Partei oder aber das fortgeschrittene Alter des Klägers sein. Frühestens ein Jahr nach Aussetzung kann eine Partei die Fortsetzung des Verfahrens beantragen. Es gilt insoweit § 149 Abs. 2 ZPO, der die Aussetzung bei Verdacht einer Straftat regelt. Sprechen gewichtige Gründe für eine fortdauernde Aussetzung, bleibt es jedoch dabei. 

Leitentscheidung trotz Beendigung des Revisionsverfahrens

Bemerkenswert ist, dass der BGH über die im Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren dargelegten Fragen entscheiden kann, selbst wenn die eigentliche Revision zurückgenommen oder das Revisionsverfahren durch einen Vergleich beendet wurde. Bisher war dies nicht möglich: Die Parteien konnten als Herrinnen des Verfahrens mittels eines Vergleichs oder eine Revisionsrücknahme vermeiden, dass sich der BGH zu bestimmten Rechtsfragen äußert. 

Endet die zum Leitentscheidungsverfahren bestimmte Revision, ohne dass ein mit inhaltlicher Begründung versehenes Urteil des BGH ergeht, so trifft der BGH durch Beschluss eine Leitentscheidung. Dieser ergeht ohne mündliche Verhandlung. Die Leitentscheidung dient dann den Instanzgerichten und der Öffentlichkeit als Leitfaden dafür, wie die Revisionsentscheidung ausgesehen hätte. Die Leitentscheidung ist unverzüglich zu veröffentlichen.

BRAK übt Kritik

Der Gesetzesentwurf wurde von verschiedenen Seiten kritisiert. Die Fraktion der CDU/CSU vertrat beispielsweise die Ansicht, das Leitentscheidungsverfahren setze zeitlich zu spät an, da Massenverfahren weiterhin zunächst durch die Instanzen bis zum BGH wandern müssten, das Leitentscheidungsverfahren werde dort also erst zu einem recht späten Zeitpunkt bestimmt. 

Auch die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) übte Kritik an dem Entwurf, stimmte jedoch zu, dass ein weiteres Instrument zu Bewältigung der Massenverfahren notwendig sei. Allerdings lägen nach wie vor keine konkreten Zahlen vor, wie viele Massenverfahren es tatsächlich gibt und in welchem Maße diese Verfahren die Ziviljustiz trotz des ermittelten Rückgangs der Verfahrenseingänge belasten. Diesen Anmerkungen durch die BRAK liegt die Tatsache zugrunde, dass einer Studie des Bundesjustizministeriums zur Folge die Anzahl der erstinstanzlichen Verfahren bei den Zivilgerichten zwischen 2005 und 2019 um 32,5 Prozent zurückgingen. 

Ob sich das Leitentscheidungsverfahren als ein wirksames Instrument etablieren kann, wird sich zeigen. Denn es wird einige Jahre dauern, bis der BGH überhaupt die Möglichkeit bekommen kann, ein Verfahren zum Leitentscheidungsverfahren zu bestimmen. Und die Parteien beziehungsweise ihre Berater werden sich künftig gut überlegen, welche Verfahren die Revisionsinstanz erreichen. Der große Wurf ist das neue Gesetz daher wohl nicht.

Johanna Weißbach ist Rechtsanwältin und Partnerin in der Praxisgruppe Dispute Resolution bei Pinsent Masons und leitet die globale Arbeitsgruppe der Kanzlei zum Thema Massenverfahren und kollektiver Rechtsschutz.

Zitiervorschlag

Gesetzentwurf zu Massenverfahren: . In: Legal Tribune Online, 11.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55614 (abgerufen am: 16.10.2024 )

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