Der BGH stellt in einer Leitentscheidung klar: Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer gibt es nur, wenn ein Gericht unvertretbar handelte. Entsprechende Ansprüche sind damit nur noch schwer zu begründen, meint Martin W. Huff.
Sie sind für die Justiz immer ein Ärgernis: Klagen, die gegen Gerichte erhoben werden, weil Gerichtsverfahren wohl überlang gedauert haben und den Klägern daher aufgrund der Regelung des § 198 GVG ein Entschädigungsanspruch zusteht. Diesen Entschädigungsanspruch gewährt das Gesetz in der Regel in Höhe von 1.200 Euro pro Jahr der Verzögerung, wenn nach einer Verzögerungsrüge das Verfahren nicht zügig betrieben wurde. Denn in dem Entschädigungsverfahren muss genau festgestellt werden, ob und wie es zu einer Verzögerung gekommen ist und wie lange diese Verzögerung gedauert hat. Jetzt hat der Bundesgerichtshof (BGH) in einer auch für die amtliche Sammlung vorgesehenen Leitentscheidung (Urteil vom 15.12.2022 - III ZR 192/21), die am Montag veröffentlicht wurde, die Grundsätze präzisiert, die für diese Verfahren gelten.
Geklagt hatte einer der Initiatoren der sogenannten "Göttinger Gruppe", ein Unternehmensverbund, der Kapitalanlagen vertrieben hat. Um die Göttinger Gruppe gab es eine ganze Reihe von Schadensersatzprozessen von Kapitalanlegern. Im Jahr 2011 kam es zu rund 4.000 Schadensersatzklagen bei dem Landgericht (LG) Göttingen. Die Kläger, die ihr investiertes Geld verloren hatten, nahmen unter anderem den Kläger des Entschädigungsverfahrens wegen Betrugs, Kapitalanlageberufs und vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung auf Schadensersatz in Anspruch.
Verfahrensdauer: Sieben Jahre und elf Monate
Die Verfahren wurden bei verschiedenen Kammern des LG geführt. Das im Streit stehende Verfahren, das überlang gedauert haben soll, begann Ende Dezember 2011 und die Klage wurde dem jetzigen Kläger und damaligen Beklagten am 27. Februar 2012 zugestellt. Im Juni 2013 kam es zu einer ersten mündlichen Verhandlung, bei der von Amts wegen ein Beweisbeschluss mit der Einholung eines Sachverständigengutachtens erging. Ein halbes Jahr später beauftragte die Kammer dann einen Wirtschaftsprüfer und Steuerberater mit der Erstellung eines Gutachtens, das letztendlich erst nach über zwei Jahren Ende Mai 2016 bei Gericht einging. Nach Stellungnahme der Parteien erging dann im Oktober 2018 ein ergänzender Beweisbeschluss, der im April 2019 ergänzt wurde. Im Oktober 2019 nahmen die klagenden Anleger ihre Klage zurück. Im laufenden Verfahren hatte der Kläger im Oktober 2017 und im Januar 2019 eine Verzögerungsrüge erhoben, die für die spätere Geltendmachung von Ansprüchen gemäß § 198 GVG erforderlich ist.
Mit seiner Entschädigungsklage vertritt er die Auffassung, dass das Verfahren mit einer Gesamtverfahrensdauer von sieben Jahren und elf Monaten für sich genommen unangemessen lang gewesen sei. Im Zeitraum vom Juli 2013 bis zum November 2019 sei das Verfahren rechtstaatswidrig verzögert worden. So sei die Einholung des Sachverständigengutachtens unnötig gewesen, der Einwand der Unschlüssigkeit der Klage und die erhobene Verjährungseinrede seien nicht berücksichtigt worden. Der Kläger beantragte daher für jeden Monat der Verzögerung einen über dem Satz von 100 Euro im Monat liegenden Betrag von 150 Euro für jeden Monat der Verzögerung zu zahlen - und damit insgesamt eine Entschädigung in Höhe von 11.500 Euro.
Schließlich hat dann auch das für das Klageverfahren zuständige OLG Braunschweig das beklagte Land Niedersachsen zu Schadensersatz in Höhe von 6426,61 Euro verurteilt. Daraufhin ging der Fall zum BGH, dessen III. Senat nun auf die Revision beider Parteien hin das Land nur zu einer Zahlung von 1.200 Euro nebst Zinsen verurteilt hat.
BGH: Handelte Gericht noch vertretbar?
Der BGH ist der Auffassung, dass in dem gesamten Verfahren die Verfahrensdauer vor dem Landgericht nach Eingang des Sachverständigengutachtens im Mai 2016 mit acht Monaten überlang gewesen sei. Gründe für diese lange Bearbeitungsdauer seien hier nicht erkennbar. Alle anderen geltend gemachten Verzögerungen hat der Senat jedoch zurückgewiesen.
Der BGH stellt insbesondere klar, dass im Entschädigungsprozess nach § 198 GVG keine Prüfung stattfindet, ob das Gericht, dem eine überlange Verfahrensdauer vorgeworfen wird, alles richtig gemacht habe. Überprüft werde nur, ob das Verhalten des Gerichts noch vertretbar sei. Eine Vertretbarkeit dürfe auch nur dann verneint werden, wenn das richterliche Verhalten bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege dazu führt, dass das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich sei. Eine Überprüfung, ob es andere sinnvollere Wege gegeben habe, findet nicht statt. Denn ansonsten würde bei einer Überprüfung auf die sachliche Richtigkeit hin in den Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit eingegriffen.
"Kein Anspruch auf optimale Verfahrensförderung"
Diese Überprüfung dürfe es aber nicht geben. Dem Gericht müsse, so die Richter, eine ausreichende Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen, die der Schwierigkeit und der Komplexität der Rechtssache angemessen Rechnung getragen wird. Deutlich wird der BGH, wenn er schreibt: "Der Rechtssuchende hat keinen Anspruch auf eine optimale Verfahrensförderung"- und die richterliche Handlungsweise müsse immer mit Blick auf die Abwägung zwischen richterlicher Unabhängigkeit und effektiven Rechtsschutz gesehen werden.
Eine Entschädigung kann laut BGH nur verlangt werden, wenn die Verfahrensdauer insgesamt eine Grenze überschreitet, die sich für den Betroffenen als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und unverhältnismäßig darstellt. Zwar seien die Gerichte bei längerer Verfahrensdauer verpflichtet, Verfahren besonders zu fördern, aber die Latte liegt hier, liest man die Entscheidung des BGH, sehr hoch. Auch die lange Dauer der Erstellung des Sachverständigengutachtens rechnet der BGH nicht der Verfahrensdauer zu: "Die Tätigkeit von Sachverständigen unterliegt nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich". Zudem sei es nicht anzugreifen, dass dem LG Göttingen für die Auswertung des Sachverständigengutachtens eine ausgiebige Vorbereitungszeit und Bearbeitungszeit von insgesamt zwölf Monaten zugestanden worden sei. Dieses sei aufgrund der Komplexität des Sachverhaltes in wirtschaftlicher Hinsicht noch nicht zu beanstanden.
Allerdings sieht es der BGH zugunsten des Klägers nicht als entscheidend an, dass das angegriffene Verfahren nur eines von vielen gewesen sei und die wirtschaftliche Bedeutung aufgrund anderer Verfahren, in denen der Kläger auf Schadensersatz in Anspruch genommen wurde, nur gering sei. Durch dieses vom Land Niedersachsen vorgebrachte Argument könne ein Entschädigungsanspruch nicht verneint werden. Auch ist die Belastung des Klägers durch die regelmäßige Medienberichterstattung und sein höheres Alter zu berücksichtigen.
Entschädigungsverfahren nur noch mit erheblichem Aufwand
Jedoch sieht der BGH für die Verzögerung von acht Monaten nur eine Entschädigung von 1.200 Euro als angemessen an. Diese liege zwar etwas über dem Satz von 100 Euro pro Monat, aber weitere Nachteile, die über diesen Betrag liegen, seien nicht vom Kläger hinreichend nachgewiesen worden. Daher sei ihm nur für die festgestellten acht Monate Verzögerung die von ihm beantragte Entschädigung von 150 Euro pro Monat zuzubilligen.
Insgesamt zeigt das auf 41 Seiten ausführlich begründete Urteil des BGH an, wie schwierig es ist, Ansprüche gemäß § 198 GVG geltend zu machen. Der Kläger muss für jeden einzelnen Verfahrensschritt darlegen, dass es zu einer Verzögerung gekommen ist, die nicht mehr vertretbar ist. Dabei sind auch äußere Einflüsse zu berücksichtigen. So dürfte die Aussage, dass Sachverständigengutachten nicht in die Verzögerungsrüge hineinfallen, in vielen in Betracht kommenden Entschädigungsverfahren einen Schadensersatzanspruch wegen Verzögerung ausschließen.
Zudem muss auch dargelegt werden, dass richterliche Handlungen unvertretbar und nicht nur falsch waren. Dies alles führt dazu, dass Entschädigungsverfahren mit einem ganz erheblichen Aufwand verbunden sind und sich im Ergebnis für den Betroffenen kaum wirtschaftlich rechnen dürften. Viel wichtiger scheint daher zu sein, dass es das Instrument der Verzögerungsrüge gibt, damit das Gericht zum Handeln gezwungen wird - was durchaus auch geschieht.
BGH räumt Richtern weiten Ermessensspielraum ein: . In: Legal Tribune Online, 01.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50945 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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