Mitten in die Diskussion um das Berliner Neutralitätsgesetz platzt eine neue Regelung für Referendarinnen in der Justiz: Sie dürfen bei der Sitzungsvertretung nun ein Kopftuch tragen – aber keine Robe.
Der Streit um das Kopftuch für Lehrerinnen in Berlin ist noch in vollem Gange, da kommt schon die nächste Diskussion auf: Was ist mit dem Kopftuch für Referendarinnen im Justizdienst? Bisher war klar, dass Referendare keine religiösen Symbole tragen dürfen, wenn sie hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, etwa die Sitzungsvertretung bei der Staatsanwaltschaft. Künftig soll das möglich sein – allerdings unter engen Voraussetzungen und nur zusammen mit einem Ausbilder.
Die Aufregung ist groß. Der Berliner Tagesspiegel schreibt von einem "Eklat bei Rot-Rot-Grün", mutmaßliche Straftäter, "egal ob Atheist, Jude oder Christ" müssten sich jetzt auf eine "Vertreterin der Anklage mit Kopftuch" einstellen. Der stellvertretende CDU-Landesvorsitzende Falko Liecke nannte die neue Regelung einen "Frontalangriff auf die staatliche Neutralität". Justizsenator Dirk Behrendt (Die Grünen) missachte damit das Neutralitätsgesetz und sende ein "gefährliches Signal an die immer stärker organisierten Vertreter des politischen Islam in dieser Stadt".
Der FDP-Politiker Paul Fresdorf betonte: "Die Neutralität des Staates müsse auch in der der Schule und der Justiz gewährleistet sein" und der AfD-Politiker Marc Vallendar äußerte die Befürchtung, dass als nächsten Schritt auch Staatsanwältinnen selbst Kopftuch tragen dürften. Auch vom Koalitionspartner SPD kam Kritik: "Die SPD-Fraktion steht zum Neutralitätsgesetz, sie steht zur religiösen Neutralität bei Schulen, Justiz und Polizei", betonte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Sven Kohlmeier.
Die Neuregelung platzt mitten in die Debatte um das Kopftuch für Lehrerinnen …
Was also ist passiert? Das Berliner Neutralitätsgesetz sorgt sowieso gerade für Streit, auch innerhalb der rot-rot-grünen Koalition. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte Ende August einer Berliner Lehrerin eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zugesprochen. Sie wurde unter Verweis auf das Kopftuchverbot des Neutralitätsgesetzes nicht in den Schuldienst eingestellt, weil sie ein Kopftuch tragen wollte.
Das BAG allerdings erklärte, ein so pauschales Kopftuchverbot, wie es das Neutralitätsgesetz vorsieht, sei verfassungswidrig – ein Verbot komme allenfalls in Betracht, wenn der Schulfrieden konkret gestört werde. Das hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) schon 2015 klargestellt, in einer Entscheidung die sich auf eine Regelung in Nordrhein-Westfalen bezog.
Eigentlich ist damit nur für den Einzelfall geklärt, dass die Berliner Lehrerin diskriminiert wurde und ihr eine Entschädigung zusteht. Das Berliner Neutralitätsgesetz bleibt in Kraft, muss aber verfassungsgemäß ausgelegt werden. Und die Koalition muss sich nun überlegen, wie sie damit umgeht.
Mitten in diese Debatte platzt nun eine neue Regelung für das Referendariat. Die allerdings hat mit der Entscheidung des BAG zum Neutralitätsgesetz und dem BVerfG zum Kopftuch an Schulen nichts zu tun.
… hat damit aber eigentlich nichts zu tun
Die neue Regelung gilt bereits seit dem 1. August und damit für den aktuellen und die folgenden Referendardurchgänge. Beschlossen wurde sie vom Kammergericht, das für die Ausbildung der Referendare in Berlin zuständig ist, und vom Gemeinsamen Juristischen Prüfungsamt der Länder Berlin und Brandenburg (GJPA).
Dabei geht es um eine ganz andere Entscheidung des BVerfG: Im Januar dieses Jahres hatten die Karlsruher Richter zwei Verfassungsbeschwerden von zwei muslimischen Rechtsreferendarinnen aus Hessen abgelehnt. Die Verfassungsrichter bestätigten damit die hessische Regelung, nach der Referendarinnen bei der Ausübung hoheitlicher Aufgaben kein Kopftuch tragen dürfen. Allerdings betont das BVerfG auch, dass zwischen den verschiedenen Rechtsgütern – der Religionsfreiheit der Kopftuchträgerinnen auf der einen Seite und den Grundsätzen der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege sowie die negative Religionsfreiheit Dritter auf der anderen Seite – abzuwägen ist.
Nach Angaben des Kammergerichts war diese Entscheidung der Grund, die bisherige Praxis in Berlin zu überdenken. Zwar ist es gemäß § 1 Neutralitätsgesetz Beamten grundsätzlich untersagt, ein Kopftuch oder andere religiöse Symbole sichtbar bei hoheitlichen Tätigkeiten innerhalb des Dienstes zu tragen. Allerdings lässt § 4 Neutralitätsgesetz, der über § 10 Abs. 3 Juristenausbildungsgesetz (JAG) Berlin auch für Referendare Anwendung findet, bestimmte Ausnahmen im Vorbereitungsdienst zu. Unter welchen Umständen Ausnahmen zuzulassen sind, liegt gem. § 4 Neutralitätsgesetz in dem Ermessen der Dienstbehörde bzw. der zuständigen Personalstelle.
Nach der Auswertung der BVerfG-Entscheidung sei man zu dem Schluss gekommen, künftig das Tragen religiöser Symbole zu ermöglichen, heißt es seitens des Kammergerichts. Dabei müsse nach außen aber stets deutlich werden, dass es sich um auszubildende Juristinnen handele. Konkret bedeutet das: Eine Referendarin mit Kopftuch darf zwar den Sitzungsdienst übernehmen, sie darf dabei aber keine Robe tragen und sie muss von ihrem Ausbilder begleitet werden, dieser trägt dabei die Robe. So soll deutlich gemacht werden, dass "nur Teile der Sitzungsleitung im Rahmen eines Ausbildungsverhältnisses von einer Referendarin geleitet werden, während die hoheitlichen Kernbefugnisse zu jeder Zeit dem staatsanwaltschaftlichen Ausbilder zustehen", erklärt das Kammergericht.
Grundsätzlich bleibt es Aufgabe des Ausbilders, zu entscheiden, ob und welche Aufgaben er einem Referendar überträgt. Die Vorsitzende des Berliner Richterbundes, Katrin Schönberg, sagte dazu: "Uns ist es wichtig, dass man die Kollegen mit diesen Entscheidungen nicht allein lässt". Ein Sprecher des Kammergerichts erklärte gegenüber LTO, man habe den Ausbildern eine Handreichung dazu gegeben. Nun müsse man "einfach mal abwarten, wie sich das in der Praxis bewährt", so der Sprecher.
Bildungssenatorin kündigt "Verfassungsbeschwerde" gegen Neutralitätsgesetz an
Und was wird aus dem Streit um das Kopftuch für Lehrerinnen? Bildungssenatorin Sandra Scheeres hat am Donnerstagabend im Abgeordnetenhaus erneut angekündigt, sie wolle die Urteilsgründe des BAG abwarten und dann "prüfen, ob wir eine Verfassungsbeschwerde einlegen". Die Aussage ist deshalb erstaunlich, weil die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich nur Grundrechtsträgern zusteht, die sich gegen Akte hoheitlicher Gewalt wehren, aber gerade nicht staatlichen Organen selbst. Auf Nachfrage von LTO konnte die Senatsverwaltung nicht aufklären, was genau gemeint sein sollte.
Dr. Nora Markard, Professorin für öffentliches Recht an der Universität Münster, erklärt: "Die einzigen grundrechtsgleichen Rechte, auf die sich alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts berufen können, sind die Justizgrundrechte, insbesondere das Recht auf den gesetzlichen Richter und auf rechtliches Gehör." Möglich erscheint insofern, dass in Karlsruhe eine fehlende Vorlage des BAG an den EuGH gerügt werden soll. Aus der Senatsverwaltung hieß es zudem, man werde auch prüfen, den Europäischen Gerichtshof direkt zu befassen, da das AGG europäisches Recht umsetze.
Markard sagt dazu: "Das scheint mir eher abwegig. Allein denkbar wäre, dass das BAG dem EuGH hätte vorlegen müssen, weil hier die Rahmenrichtlinie verletzt sein könnte – wobei nicht ersichtlich ist, worin die Verletzung bestehen soll. Die Rahmenrichtlinie enthält ja nur Mindeststandards und erlaubt den Mitgliedstaaten explizit, Regelungen zu treffen, die aus Sicht der Betroffenen günstiger sind." Ein direkter Weg zum EuGH gegen nationale Rechtsakte bestehe erst gar nicht, so die Rechtsprofessorin. Das gehe allenfalls im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens. Da sei aber nur der Bund als EU-Mitgliedstaat antragsberechtigt, nicht das Land Berlin.
Annelie Kaufmann, Neue Regelung für Referendarinnen in Berlin: . In: Legal Tribune Online, 04.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42712 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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