Inken Gallner (57) ist die neue Präsidentin des BAG. Von Top-Down-Führung hält sie wenig, von der Einbindung aller Mitarbeitenden am Gericht umso mehr. Was sie plant, erzählt sie im Interview.
LTO: Frau Gallner, Sie haben vor rund zwei Wochen die Ernennungsurkunde zur Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bekommen. Wie waren die ersten Tage?
Inken Gallner: Die Tage seit dem 24. Januar waren voll mit Rechtsprechungs- und Verwaltungsterminen. Wir haben neben der Rechtsprechung mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, mit der elektronischen Akte und der laufenden Organisation des Hauses zu tun.
Ich habe also die Abläufe des Hauses schnell aus einer etwas anderer Perspektive kennenlernen können. Mein Privileg dabei ist, dass ich seit dem Jahr 2007 Mitglied des BAG bin und das Gericht auch in seinen Verwaltungsabläufen schon ganz gut kenne.
Mit Ihnen bekleidet erneut eine Frau aus Westdeutschland das Amt der Präsidentin am BAG. Was prädestiniert Sie für die Position?
Die Besetzung eines Präsident:innenamts an einem Bundesgericht ist vielschichtig. Mal kommen die Personen aus der Fachgerichtsbarkeit, mal von außen aus der Exekutive wie Bettina Limperg als Präsidentin des Bundesgerichtshofs, die zuvor Amtschefin des Justizministeriums Baden-Württemberg war. Frau Limperg war vor dieser Funktion allerdings auch Mitglied der ordentlichen Gerichtsbarkeit.
Ich selbst habe gewissermaßen zwei Seelen in meiner Brust: Ich habe viel Rechtsprechung gemacht in meinem Leben, bin seit dem Jahr 2007 BAG-Richterin, aber ich hatte auch Zeiten als politische Beamtin und abgeordnete Richterin in Ministerialabläufen. Ich war zwei Jahre lang Amtsleiterin im Justizministerium Baden-Württemberg. i In meinem beruflichen Lebensweg verbinden sich Justiz und Verwaltung in besonderer Weise. Das hätte aber keinen Mitbewerber und keine Mitbewerberin aus den sog. ostdeutschen Ländern an einer Bewerbung gehindert – aber es gab keine Mitbewerber:innen aus diesen Landesteilen, soweit ich weiß.
"Verständnis für alle Aufgabenbereiche entwickeln"
Bisher waren Sie für die anderen Richter:innen am BAG eine Kollegin, jetzt haben Sie einen Schritt nach oben gemacht. Ist dieser interne Wechsel problematisch?
Ich glaube, das ist eine Frage des Führungsverständnisses. Die Führung einer Präsidentin muss nicht – um ein schreckliches Managementwort zu gebrauchen – top-down sein. Ich glaube, es ist auch ihre Aufgabe, die verschiedenen Aufgabenbereiche zusammenzubinden.
Für mich ist es wichtig, dass wir am BAG, an dem der Aufgabenzuschnitt und die Vergütung sehr verschieden ist, alle wissen, dass wir an einer Sache zusammenarbeiten. Dass wir alle versuchen, das Arbeitsrecht für etwa über 41 Millionen Arbeitnehmer:innen und eine ungezählte Menge an arbeitgebenden Menschen verständlich, nachvollziehbar und deutlich zu machen.
Unsere Rechtsprechung ist nur möglich, wenn die Abteilungen des Hauses zusammenarbeiten, und das betrifft alle Kolleg:innen des Hauses: die 38 Richter:innen, die Wachtmeister:innen, die Geschäftsstellenverwalter:innen, die Rechtspfleger:innen, die Dokumentar:innen, die Bibliothekar:innen und die Kolleg:innen aus der allgemeinen Verwaltung.
Für mich ist daher die erste innere Führungsaufgabe, Verständnis für alle Aufgabenbereiche des Hauses zu entwickeln und die kostbare Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Richter:innen von Arbeitnehmer:innen- und Arbeitgeber:innen-Seite zu intensivieren und diese Menschen eng einzubinden.
Sie haben nun rund neuneinhalb Jahre Zeit bis zu Ihrer Pensionierung am 31. Juli 2031. Mit welchen Themen werden Sie als Präsidentin das Gericht prägen?
Ein besonders wichtiges Thema für mich ist verständliche, klare und einfache Kommunikation von komplexen Sachverhalten und Zusammenhängen. Ich lege großen Wert darauf, die juristische Fachsprache in Allgemeinsprache zu übersetzen, auch in Urteilen und Beschlüssen.
Das ist immer wieder eine Herausforderung in der Alltagsarbeit. Die Aufgabe ist umso schwieriger, je komplexer der Fall ist. Dieses Anliegen kennen meine Kolleg:innen aus meiner Zeit als Pressesprecherin des BAG und tragen dieses Ziel nach meinem Eindruck mit.
Das zweite Ziel ist ein persönliches: Ich glaube, dass wir die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene intensivieren müssen. In der Vergangenheit gab es durchaus Irritationen auf nationaler Seite. Ich bin überzeugte Europäerin und überzeugte Unionsrechtlerin. Als solche bin ich mir sicher, dass mit dem Unions- und dem Konventionsrecht und der Rechtsprechung der europäischen Gerichte kein Bedeutungsverlust der nationalen Gerichte verbunden ist, der gelegentlich befürchtet wird. Die nationalen Gerichte sind selbst Anwender des Unions- und des Konventionsrechts.
Wir haben in der europäischen Rechtsgemeinschaft zunehmend politisch autoritäre Einflüsse von innen und außen. Es ist wichtig, dass der Gerichtshof der Europäischen Union, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die innerstaatlichen Verfassungsgerichte und die nationalen Fachgerichte ihre Kräfte bündeln, um diese autoritären Einflüsse abzuwehren.
"Im Zweifel vorlegen"
Wie stellen Sie sich das in der Praxis vor?
Ich wage ein paar juristische Allgemeinplätze. Primäres Unionsrecht ist durch die nationalen Gerichte unmittelbar anzuwenden. Die nationalen Gerichte müssen sekundärrechtlich überformtes innerstaatliches Recht richtlinienkonform auslegen, soweit das möglich ist. Bei Zweifelsfragen, wenn es noch keine klaren Positionen des EuGH gibt, sollte der EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen gefragt werden. Ich finde, das ist in der Entscheidung des EuGH vom 21. Dezember 2021, in der es um den Anwendungsvorrang des Unionsrechts geht, noch einmal ziemlich klar geworden (C-357/19 u. a. - Euro Box Promotion u. a.). In der Entscheidung wird deutlich, welche Gefahren bestehen, wenn die nationalen und europäischen Gerichte nicht zusammenarbeiten.
Das BAG selbst legt dem EuGH allerdings schon viele Fragen vor, es besteht kein Entwicklungsbedarf. Ich halte es aber für wichtig, an der Anwendung des gemeinsamen Unionsrechts weiter zu arbeiten, den engen Kontakt nationaler Richter:innen mit den europäischen Richter:innen zu suchen und frühzeitig zu merken, wenn Staaten Tendenzen haben, sich abzukoppeln.
Ein Thema, das alle Gerichte derzeit beschäftigt, ist die Digitalisierung. Am BAG arbeiten seit Mitte 2021 vier von den zehn Senaten ausschließlich mit der elektronischen Akte. Wie geht es weiter?
Die Digitalisierung geht stringent weiter. Es gibt mit dem 3. und 9. Senat schon zwei weitere Senate, die hybrid arbeiten, die Akten also doppelt führen. Demnächst werden sie nur noch mit der eAkte arbeiten.
In die Hybridphase übergehen sollen zum 1. März der 6. und der 10. Senat, dann folgen drei Monate später der 7. und der 8. Senat. Alle Senate arbeiten jeweils drei Monate hybrid und gehen dann sukzessive in den Vollbetrieb mit der eAkte über.
"Das Forschungsprojekt zur NS-Vergangenheit des BAG hat zwei Phasen"
Es gab einige Anläufe, die NS-Vergangenheit des BAG aufzuarbeiten. Wie ist der Stand und welche Priorität können Sie dieser Aufgabe einräumen?
Noch unter Ingrid Schmidt als Präsidentin hat das BAG eine Vereinbarung über die Durchführung eines umfassenden zeit- und rechtshistorischen Forschungsprojekts mit dem Titel "Das Bundesarbeitsgericht zwischen Kontinuität und Neuanfang nach 1954" abschließen können. Für dieses Forschungsvorhaben hat uns das Bundessministerium für Arbeit und Soziales erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt.
Es geht darum, personelle und inhaltliche Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus festzustellen. Es gibt dazu zwei Projektphasen. In der ersten werden die Biographien der Richter:innen und Präsident:innen des BAG durchleuchtet, die im Nationalsozialismus bereits gelebt haben, um zu sehen, ob es eine Verstrickung mit dem System gab. In der zweiten Phase wird untersucht, ob es Kontinuitäten in der Rechtsprechung aus dem Nationalsozialismus in der frühen Phase der Bundesrepublik gibt.
Das Projekt ist zum Jahresbeginn 2022 gestartet, die Professoren konzipieren es jetzt. Wir werden die Öffentlichkeit in dem auf insgesamt drei bis vier Jahre angelegten Vorhaben regelmäßig über die (Zwischen-)Ergebnisse informieren. Aufgabe des BAG ist es, die völlige Unabhängigkeit der Forschenden zu gewährleisten und alle Informationen und Mittel zugänglich zu machen, über die wir verfügen.
Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist eines meiner persönlichen Lebensthemen. Meine Eltern waren Jahrgang 1921 und 1923, das Grauen des Nationalsozialismus war damit ein häufiger Gast am Abendbrottisch in meinem Elternhaus. Unabhängig von persönlichen Prägungen ist es jedoch entscheidend, dass wir uns als BAG bei dem Forschungsprojekt ganz und gar zurücknehmen, damit die Forscher völlig unabhängig analysieren und Schüsse ziehen können – ohne jeglichen Einfluss.
Frau Gallner, vielen Dank für das Gespräch.
Interview mit der neuen BAG-Präsidentin Inken Gallner: . In: Legal Tribune Online, 09.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47478 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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