Sehr kurze Verfahrensdauer, mehr Erledigungen als Eingänge und große Gelassenheit ob der starken Kritik an der Rechtsprechung zur Arbeitszeiterfassung: Gerichtspräsidentin Inken Gallner vertritt ein selbstbewusstes BAG.
Die größte Überraschung bei der Vorstellung des Jahresberichts für 2022 am Mittwoch in Erfurt war wohl die Ankündigung der Präsidentin Inken Gallner, dass das Bundesarbeitsgericht (BAG) zeitnah einen Account beim Sozialen Netzwerk "Mastadon" erstellen wird. Das Gericht, das sich bisher aus den sozialen Netzwerken vollständig herausgehalten hat, sieht in diesem Schritt ein "geringes Risiko". "Wir tasten uns langsam an den 'state of the art' der Gegenwart und vielleicht auch der Zukunft heran", sagte Gallner. Sie habe das Gefühl, dass sie bei diesem Anbieter selbst darüber bestimmen könne, was mit den Daten des Gerichts passiert.
Das BAG hatte sich - wie auch schon das BSG am Tag zuvor - dafür entschieden, die Präsentation des Jahresberichts hybrid abzuhalten. Es gab einen Rückblick auf die wesentlichen Entscheidungen und Entwicklungen des Jahres 2022, deren Relevanz für die aktuelle politische Diskussion und bot einen Ausblick auf die Themen, die das BAG in diesem Jahr beschäftigen werden.
Urlaub, Arbeitszeit, Nachtzuschläge
Ein wesentliches Thema des Jahres 2022 war für das BAG die Rechtsprechung zum Urlaub, die nach entsprechenden Vorabentscheidungsersuchen aus Erfurt wesentlich von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) geprägt war. Es ging etwa um Verfall von Urlaub nach Kündigung und bei langer Krankheit. "Ich habe den Eindruck, dass am EuGH langsam eine konsolidierte Linie in der Rechtsprechung zum Urlaub besteht", sagte Gallner. Denn lange Zeit habe in Luxemburg die Große Kammer die Entscheidungen gefällt, zuletzt habe jedoch immer die 6. Kammer am EuGH entschieden. Dies sehe sie als Zeichen, dass das Thema Urlaub nun ausgeurteilt ist, so Gallner.
Ebenfalls ausgeurteilt könnte das Thema Arbeitszeiterfassung sein. Schon im Jahr 2019 gab es eine grundlegende Entscheidung zum "Ob" der Arbeitszeiterfassung vom EuGH (Urt. v. 14.05.2019, Az.: C-55/18). Nun hatte das BAG im vergangenen Jahr zum "Wie" entschieden und bestimmt, dass die Arbeitgeber "die Lage, Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit" tatsächlich erfassen müssen, die bloße Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems sei nicht ausreichend.
Arbeitszeiterfassung ist "Paternalismus pur"
Die sich an diese Entscheidung anschließende hitzige Diskussion ging an den Richtern und Richterinnen am BAG natürlich nicht spurlos vorbei – ebenso wenig wie neue Gutachten diverser namhafter Arbeitsrechtler im Auftrag von Bundesarbeitsministerium (BMAS), Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) und Arbeitgeberverband Gesamtmetall zu dem Thema, die Gallner selbst auch vorliegen.
Dass die oftmals verächtlich als "Stechuhr-Urteil" titulierte Entscheidung eine "kontroverse Debatte" auslösen würde, sei vorherzusehen gewesen, so Gallner. Die Entscheidung sei "ein Politikum", "ein zutiefst bevormundendes Rechtssystem", "Paternalismus pur". Doch es gehe um den Schutz von rund 41 Millionen Beschäftigten, um "den Schutz von Arbeitnehmer:innen, die sich selbst ausbeuten und ausgebeutet werden". Es sei aus gesundheitlichen Gründen gut und wichtig, die wöchentliche Vorgabe von maximal 48 Stunden Arbeit und elf Stunden Ruhezeit zwischen zwei Schichten nicht zu überschreiten. Sie sehe die Debatte daher mit großer Gelassenheit.
Schon im Jahr 2015 habe der Deutsche Juristentag das Thema diskutiert und sei zu dem Schluss gekommen, dass die Ruhezeit auch nicht beispielsweise durch eine einzelne E-Mail unterbrochen werden dürfe. Die Debatte aber, dass Vertrauensarbeitszeit mit der BAG-Entscheidung nicht mehr möglich sein solle, verstehe sie nicht. "Man kann flexibel arbeiten, aber im Rahmen der Gesetze."
Schneller abzuhandeln war bei der Präsentation am Mittwoch die Rechtsprechung des BAG zum Thema Corona-Pandemie. Nur einige wenige Fälle waren zu diesem Thema in Erfurt angekommen, doch insgesamt hätten sich die Arbeitsvertragsparteien offenbar pragmatisch und schnell verständigt. "Das Thema dürfte mit wenigen Ausnahmen aufgearbeitet sein", sagte die BAG-Präsidentin.
Streitthema 2023: Verfügung von Nachtarbeit
Die kommenden Entscheidungen werden sich 2023 vor allem um die Nachtarbeit drehen, ließ die Gerichtspräsidentin durchblicken. Da stellt sich zum Beispiel die Frage, ob Beschäftigte unterschiedlich vergütet werden können, je nachdem, ob sie die Nacharbeit regelmäßig oder nur unregelmäßig erbringen. Wer dabei regelmäßig Nachtarbeit macht, bekommt weniger Gehalt als Beschäftigte, die Nachtarbeit nur unregelmäßig erbringen.* Über 400 beim BAG anhängige Revisionen betreffen allein dieses Thema. Nach Angaben der Gewerkschaften, weiß Gallner zu berichten, seien in allen drei Instanzen sogar 6.000 solcher Fälle anhängig.
"In kluger Selbstbeherrschung" habe der EuGH auf eine Vorlage des 10. Senats nicht entschieden, ob hier eine rechtswidrige Ungleichbehandlung vorliegt (Urt. v. 07.07.2022), da die Ungleichbehandlung das Unionsrecht nicht berühre. Nun wird das BAG selbst entscheiden: am 22. Februar, am 22. März, am 24. Mai und am 28. Juni stehen Fälle zu diesem Thema zur Entscheidung an.
Bei dem Thema hoffen die Richter:innen aus Erfurt auch auf ein Signal aus Karlsruhe: "Das BAG vertritt die Rechtsauffassung, dass auch die Tarifparteien einer mittelbaren Grundrechtsbindung unterliegen und sich an das allgemeine Gleichheitsgrundrecht halten müssten. Für uns ist das eine äußert wichtige Frage und wir wüssten gerne aus Karlsruhe, ob wir auf dem richtigen Weg sind", so die Präsidentin.
Zwei Verfassungsbeschwerden sind dazu derzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängig und könnten Klarheit bringen, bevor das BAG zu dieser Frage endgültig entscheidet.
Schnelle und wenige Verfahren
Auch Zahlen durften beim BAG-Jahresbericht nicht fehlen. Bei den im Jahr 2022 entschiedenen Fällen waren die Richter:innen demnach schnell wie seit Jahren nicht: Die durchschnittliche Verfahrensdauer lag bei fünf Monaten und vier Tagen, im Vorjahr waren es noch sieben Monate und sechs Tage – vermutlich bedingt durch Verzögerungen durch EuGH-Vorlagen.
Die Zahl der Eingänge lag im Jahr 2022 bei 1.266 und hat damit einen neuen Tiefstand erreicht, nachdem die Zahl im Jahr 2021 mit 1.521 Verfahren bereits um rund ein Viertel zurück gegangen war (2020: 2041 Eingänge). Die Anzahl der Erledigungen lag bei 1.283 und ist gegenüber den Vorjahren erneut gesunken (2021: 1.599, 2020: 2.266).
Gallner erklärte die Zahlen mit der guten Konjunktur und einem Arbeitnehmer:innenmarkt. Auch sei es "schön, dass so viel Rechtsfrieden herrscht." Für ein Revisionsgericht allerdings sei es nicht immer gut, in der Rechtsprechung keine Linien einziehen zu können.
Außer bei der Nachtarbeit werden die Richter:innen am BAG diese aber bei einigen anstehenden Fällen ziehen können: beispielsweise in einem Kopftuch-Fall in einer Kita (23.03.2023), zur Frage der Diskriminierung bei anteiliger Kürzung der Betriebsrente wegen Teilzeit (20.06.2023) und zu Equal Pay bei Leiharbeit (31.05.2023).
*Red. tap: 2 Sätze korrigiert, 09.02.2023, 9.25h
Jahresbericht des BAG für 2022: . In: Legal Tribune Online, 08.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51016 (abgerufen am: 15.11.2024 )
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