Nach 40 Dienstjahren, davon 27 am BAG, geht dessen Präsidentin Ingrid Schmidt in den Ruhestand. Im Interview spricht sie von veränderten Rahmenbedingungen, der Digitalisierung – und ihrer noch nicht wieder besetzten Position.
LTO: Frau Schmidt, Sie scheiden am 30. September nach über 27 Jahren am Bundesarbeitsgericht (BAG) und nach 16 Jahren als Präsidentin an diesem Gericht aus dem Dienst. Was war für Sie die wichtigste Entscheidung, an der Sie mitgewirkt haben?
Ingrid Schmidt: Eine solche Gewichtung ist mir fremd. Sicher, es gibt Fälle, deren Entscheidung an einer gefestigten Rechtsprechung ausgerichtet werden kann. Hier gilt es zu fragen, ob diese Rechtsprechung nach wie vor ihre Berechtigung hat. Falls ja, ist die Falllösung vorprogrammiert. Mehr Kopfzerbrechen bereiten Entscheidungen, die auf Richterrecht beruhen oder für die es keine Blaupause gibt oder die mit komplexen Abwägungen einhergehen müssen. Das sind regelmäßig solche aus dem Bereich der Tariffähigkeit oder des Arbeitskampfrechts.
Was waren die wichtigsten Veränderungen im Arbeitsrecht und in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung in Ihrer Amtszeit?
Diese Frage können Dritte, vor allem die Vertreter der Arbeitsrechtswissenschaft, besser beantworten. Richterinnen und Richter haben keinen Einfluss auf Art und Inhalt der Fälle, über die sie entscheiden müssen. Was also in den letzten Jahren entschieden wurde, ist dem zeitlichen Zufall geschuldet. Und manche Entscheidungen - wie etwa die zur Bezahlung der 24-Stunden-Pflege - sind arbeitsrechtlich nicht allzu komplex, aber von enormem gesellschaftlichen Gewicht.
Verändert haben sich allerdings die Rahmenbedingungen der gerichtlichen Tätigkeit. Zwei Stichworte seien genannt: Öffentlichkeitsarbeit und Digitalisierung. Das BAG kann sich nicht darauf beschränken, Urteile für sich sprechen zu lassen und nur in Kreisen der Arbeitsrechtswissenschaft zu diskutieren. Vielmehr muss es sie öffentlich erklären und auch in einer verständlichen Sprache schreiben. Die Entscheidungen müssen über die Homepage der interessierten Öffentlichkeit auch kostenlos zugänglich gemacht werden und die Pressesprecher müssen den anfragenden Journalisten Rede und Antwort stehen können.
Justiz, und damit auch die Arbeitsgerichtsbarkeit, wird digital - die Papierakte hat 2026 endgültig ausgedient. Das verändert das gerichtliche Verfahren und dessen Bearbeitung wie nie zuvor in der Geschichte der Arbeitsgerichtsbarkeit.
"Über weiblichen Führungsstil keine Gedanken gemacht"
Sie waren die erste Frau in dieser Position, inwiefern haben Sie das Gericht prägen können?
Ob ich das Gericht habe prägen können? Darüber haben Dritte zu befinden. Jedenfalls habe ich mir keine Gedanken gemacht, ob mit mir ein weiblicher Führungsstil eingezogen ist und was der Unterschied zu einem männlich geprägten ist.
Mir war es wichtig, dass sich die nahezu paritätische Geschlechterverteilung der Bevölkerung auch bei denjenigen abbildet, die im Namen des Volkes Recht sprechen. Dazu musste ich einiges an Überzeugungsarbeit leisten. Aber schließlich standen aufgrund der geänderten Einstellungspraxis der Länder immer mehr geeignete Arbeitsrichterinnen zur Verfügung und auch der Richterwahlausschuss hat mitgespielt. Derzeit jedenfalls ist das Geschlechterverhältnis im Richterkollegium des BAG ausgeglichen. Damit habe ich mein Ziel erreicht.
Welche Projekte oder Entscheidungen hätten Sie als Präsidentin des BAG gerne noch abgeschlossen?
Keine.
"Es fehlt offenbar am politischen Willen"
Sie hinterlassen eine Vakanz, Ihre Position ist noch nicht besetzt, wieso nicht?
Diese Frage richten Sie besser an die Bundesregierung. Es gibt keinen sachlichen Grund, von einer nahtlosen Anschlussbesetzung abzusehen. Es fehlt hierfür offenbar am politischen Willen.
Auffallend ist doch, dass es dieser Bundesregierung nicht gelungen ist, die drei seit Juli 2020 freigewordenen Präsidentenstellen von insgesamt fünf obersten Bundesgerichten zu besetzen. Wertschätzung für diese Ämter und die Arbeit der obersten Gerichtshöfe des Bundes sieht anders aus.
Sie hatten gemeinsam mit dem Präsidenten vom Bundessozialgericht (BSG), Prof. Dr. Rainer Schlegel, an der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der beiden Gerichte, gearbeitet. Wie kann dieses Projekt nun fortgeführt werden?
Die konkrete Betrachtung der Situation von BAG und BSG hat gezeigt, dass es Unterschiede in der Ausgangsposition gibt, die in einem gemeinsamen oder gleichgelagerten Forschungsvorhaben nicht abgebildet werden können.
Das BAG verfolgt nun einen auf seine Situation angepassten Ansatz. Es lässt ein zeit- und rechtshistorisches, also interdisziplinäres Projekt durchführen, das seine Geschichte mit Blick auf seine Errichtung im Jahre 1954 und mögliche personelle und inhaltliche Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus umfassend erforscht. Dieser innovative Forschungsansatz bezieht nicht nur die berufsrichterlichen Gerichtsangehörigen der ersten Stunde, sondern auch die ehrenamtlichen Richter sowie die Verwaltungsleitung mit ein.
Unter mehreren in Betracht kommenden Forschungsskizzen hat sich das BAG für ein Forschungsvorhaben entschieden, das geleitet wird von Prof. Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, und Prof. Dr. Christian Walter in Kooperation mit Prof. Dr. Martin Franzen, beide Ludwig-Maximilians-Universität München. Das Forschungsvorhaben soll Anfang des Jahres 2022 beginnen und ist auf einen Zeitraum von drei bis vier Jahren angelegt.
"Unfreiwillige Ämterhäufung"
Was sind die größten Herausforderungen, die Sie der Person hinterlassen, die Ihr Amt übernehmen wird?
Übernehmen wird das Amt zunächst einmal Herr Dr. Rüdiger Linck, der Vizepräsident des BAG. Für ihn wird die größte Herausforderung darin liegen, das Amt eines Vizepräsidenten mit dem des Präsidentenamts und der Leitung des Fünften Senats des BAG in Einklang zu bringen.
Allein diese unfreiwillige Ämterhäufung macht deutlich, dass dies eine kluge Konzentration auf die wichtigsten Aufgabenstellungen verlangt. Das wird Herrn Dr. Linck auch gelingen, da bin ich zuversichtlich.
Sie sind gerade einmal 65 Jahre jung. Was werden Sie künftig machen?
In den Tag hineinleben und alles auf mich zukommen lassen. Sehen Sie, ich gehe nach 40 Dienstjahren in den Ruhestand, davon 27 Jahre beim BAG. Das kostet Kraft. Das Präsidentenamt ist terminlich weniger selbstbestimmt als Außenstehende denken. Jetzt werde ich meine neugewonnen Freiräume erst einmal genießen.
Liebe Frau Schmidt, dafür wünschen wir Ihnen weiterhin alles Gute – und herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview mit der BAG Präsidentin Ingrid Schmidt: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46150 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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