Am US-Supreme Court gehören Amicus Curiae-Stellungnahmen zum Alltag. Interessengruppen versuchen so, Gerichtsurteile zu beeinflussen. Ein Modell auch für Deutschland? Jedenfalls kein Anlass zur Sorge vor Lobbyismus, meint Ulrich Kühne.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) am Leipziger Simsonplatz bekam vergangene Woche ganz besondere Post. Die Gesellschaft für Freiheitsrecht (GFF) schickte eine über 30 Seiten lange juristische Stellungnahme zu dem beim BVerwG anhängigen Verfahren um die Medienplattform "linksunten.indymedia", Az. 1 A 15.17.
Dort heißt es: "Die Gesellschaft für Freiheitsrechte äußert sich als amicus curiae und bittet um Beachtung im Verfahren." Aber was ist ein Amicus Curiae, ein Freund des Gerichts? Und welche Bedeutung hat die Post?
Es handelt sich um einen Mechanismus, der vor allem im US-Verfahrensrecht eine Rolle spielt: Amicus Curiae ist eine Person, meist aber eine Gruppe, Interessenverbände, Wissenschaftler, Behörden, die sich in einen laufenden Prozess einbringt, ohne selbst Partei des Rechtsstreits zu sein. Manche Amici wollen die Entscheidung in ihrem Sinne beeinflussen, andere sind objektiv.
Verfahren mit Öffentlichkeitswirkung vor dem Supreme Court ziehen unzählige solcher Eingaben an. Im Rechtsstreit zur US-Gesundheitsreform "Obamacare" gingen allein 136 Stellungnahmen ein, darunter Jura-Professoren/-innen, der Ärzteverband, Senatsmitglieder. Ist das auch bei uns möglich? Und ist das Lobbyismus vor Gericht?
Vom Römischen Forum auf den Capitol Hill
Ein Wort zum Ursprung: Der lateinische Name lässt auf eine römisch-rechtliche Tradition schließen. Tatsächlich nannte man im alten Rom bestimmte Berater von Amtsträgern "amicus". Die Verbindungen von Rom nach England, dessen Rechtssystem Vorbild war für die USA, sind jedoch brüchig. Fest steht, dass über die Handelswege von Oberitalien nach London auch Rechtstraditionen transportiert wurden. Denkbar, dass auch die Bezeichnung "amicus" diesen Weg nahm.
Unabhängig von der Wortherkunft haben aber erst die gesellschaftlichen und politischen Umstände in den USA des beginnenden 20. Jahrhunderts die Grundlage geschaffen für den Amicus Curiae von heute. Interessengruppen begannen damals, sich in gesellschaftlichen Konflikten Gehör zu verschaffen. Gleichzeitig änderte sich das Rechtsverständnis: Legal realism und sociological jurisprudence forderten von den Gerichten die aktive Gestaltung der Gesellschaft. Je mehr die Gerichte aber in die Rolle des Gesetzgebers rückten, der gesellschaftliche Konflikte lösen soll, desto eher benötigten sie Hintergrundwissen, das über den Einzelfall hinausgeht – und desto eher wollten stakeholder Einfluss nehmen.
Es bleibt meist nur die Hoffnung auf Beachtung
Die Amicus-Beteiligung in den USA erfolgt in der Regel durch Schriftsatz (engl. brief), und nur selten in der mündlichen Verhandlung. Den Gerichten steht es frei, selbst um Stellungnahmen zu bitten. In der Regel geht die Initiative jedoch von den Amici aus. Die Verfahrensregeln des Supreme Court verlangen ein "statement of interest", in dem der Amicus seine Interessen darlegt. So sollen "Gefälligkeitsgutachten" erkannt werden.
Die Regeln fordern zudem, dass die Schriftsätze Informationen enthalten, die die Parteien nicht vorgetragen haben und die von Nutzen für das Gericht sind. Hier könnte man die größte Hürde vermuten. Mitnichten. Der Supreme Court lässt in der Praxis nahezu alle Schriftsätze zu. Eine Erklärung liegt nahe: Ein Amicus hätte sein Ziel schon erreicht, wenn das Gericht den Schriftsatz lesen müsste, um ihn auf seinen Nutzen zu prüfen.
Ein weiterer Grund für die "open door policy": Dem Recht auf Einreichung steht keine Pflicht zur Lektüre gegenüber. Der 2016 verstorbene Supreme Court-Richter Antonin Scalia erklärte, Amicus-Stellungnahmen überhaupt nicht zu lesen. Ruth Bader Ginsburg bittet ihre clerks, drei Stapel zu bilden: "lesenswert", "überfliegen" und "weglegen". Die Auswahlkriterien sind unbekannt. Aufschlussreich ist ein Zitat ehemaliger Mitarbeiter: "It would be crazy to read them all." Der Amicus verfügt also über eine schwache Stellung: Er kann allenfalls hoffen, dass seine Stellungnahme Beachtung findet.
Weitere Anforderungen an den Inhalt einer solchen Stellungnahme gibt es nicht. Meist werden klassische Rechtsgutachten abgegeben. Einen Mehrwert haben Amicus-Stellungnahmen vor allem dann, wenn sie den tatsächlichen Hintergrund der Rechtsfragen beleuchten. Es geht dabei um Informationen, die man benötigt, um eine Norm zu formulieren, sogenannte "legislative facts". Sie unterscheiden sich vom klassischen Tatsachenstoff im Prozess, etwa dem Hergang eines Unfalls.
Modell für Deutschland?
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kennt Amici Curiae. Es kann nach § 27a Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) sachkundige Dritte zur Stellungnahme auffordern und macht hiervon umfangreich Gebrauch. Auch in der mündlichen Verhandlung werden regelmäßig sachkundige Auskunftspersonen angehört. Die Stellungnahmen werden in den Entscheidungsgründen erwähnt. Daneben wenden sich Dritte unaufgefordert nach Karlsruhe, ohne dass es hierfür Regelungen gibt. Solche Stellungnahmen gelangen nicht zur Akte. Zumindest bei hoher Qualität ist aber denkbar, dass sie von der Registratur über die wissenschaftlichen Mitarbeiter ihren Weg auf den Richtertisch finden.
Als Vorbild für die ordentlichen und Fachgerichte, die keine solchen Regeln kennen, eignet sich das Verfahren des BVerfG kaum. Das BVerfG nimmt für sich in Anspruch, "Herr über sein Verfahrensrecht" zu sein, dies erklärt sich auch mit seiner Rolle als Verfassungsorgan, die es von den übrigen Gerichten unterscheidet.
Freilich haben auch Entscheidungen der (oberen) ordentlichen und Fachgerichte weitreichende Wirkungen. Spricht der Bundesgerichtshof (BGH) Anschlussinhabern Schadensersatz zu für den Fall, dass ihr Internet ausfällt, hat dies Folgen für Diensteanbieter und Millionen von Nutzern. Aber wie gelangt er an die entscheidungserheblichen Informationen, etwa zur Bedeutung des Internets im Alltag? Können Betroffene ihre Interessen vorbringen?
Es gilt: iura novit curia. Das Gericht kennt das Recht. Es ermittelt die rechtlichen Urteilsgrundlagen selbständig. Natürlich bindet es die Parteien ein; das Rechtsgespräch ist zentraler Bestandteil des Verfahrens. Die Rechtsanwendung bleibt dennoch Richtersache. Beweismittel kann es hier nicht nutzen, zumal die obersten Gerichte keinen Beweis erheben. Sachverständige und Zeugen dienen lediglich dazu, den historischen Sachverhalt aufzuklären, allenfalls mittelbar die "legislative facts".
Wie das Gericht sich Informationen zur Rechtsfindung beschafft, steht ihm frei: Gespräche mit Kollegen und Mitarbeitern, Lektüre von Fachzeitschriften. Dieser Freiheit setzen die Verfahrensgarantien der Parteien Grenzen, insbesondere der Anspruch auf ein unabhängiges Gericht. Schon der Anschein der Beeinflussung der Entscheidungsfindung ist unzulässig. Das Risiko besteht freilich für die Ausführung in Schriftsätzen genauso wie für alle anderen Kanäle, auf denen versucht wird auf Gerichte Einfluss zu nehmen. Man denke an Statements von Politikern zu anstehenden Gerichtsentscheidungen. Innerhalb dieser Grenzen aber können Gerichte auch Stellungnahmen Dritter berücksichtigen.
Die Verfahrensordnungen schützen die Parteien hierbei, indem sie den Gerichten Hinweispflichten auferlegen, vgl. etwa § 139 ZPO. Eine solche Pflicht besteht, wenn das Gericht eine konkret auf den Rechtsstreit bezogene Stellungnahme berücksichtigen will.
Der unbeteiligte Dritte wiederum hat auch in Deutschland keinen Anspruch auf Berücksichtigung seiner Eingabe. Der Anspruch auf rechtliches Gehör in Art. 103 Grundgesetz (GG) gewährt kein "populäres Anhörungsrecht" für ideell oder wirtschaftlich Betroffene, sondern schützt nur die rechtlich ausgeformten Positionen.
Amicus curiae als Instrument für die Gerichte
Trotz umfangreicher Amicus-Beteiligung vor US-Gerichten bleibt deren Wirkung beschränkt. Sie können jedoch ein Instrument für Gerichte sein, sich über die rechtlichen Urteilsgrundlagen zu informieren.
Auch das deutsche Recht erlaubt Amicus-Stellungnahmen. Jedoch nur soweit das Gericht dies wünscht. Wollte man in Deutschland eine Amicus-Praxis für die obersten Gerichte etablieren, wäre aus Gründen der Rechtssicherheit eine gesetzliche Regelung sinnvoll, prozessrechtlich zwingend ist sie nicht.
Der verfahrensrechtliche Rahmen mindert Sorgen vor Lobbyismus, zumal die Stellungnahmen nach US-Vorbild anders als Lobbying "mit offenem Visier" abgegeben werden. Gleichzeitig sind Hoffnungen, die Legitimität gerichtlicher Entscheidungen ließe sich durch die Öffnung für den Diskurs steigern, schon mangels Repräsentativität der Eingaben kaum begründet. Entsprechenden Forderungen sollte man auch deshalb zurückhaltend gegenüberstehen, weil sie die Bedeutung der "Justizförmigkeit" des Prozesses für die Qualität und die Akzeptanz der Entscheidungen unterschätzen.
Der Autor ist im höheren Justizdienst des Landes Baden-Württemberg tätig, derzeit als Referent in der Europaabteilung des Ministeriums der Justiz und für Europa Baden-Württemberg. Er wurde 2013 von der Universität Freiburg promoviert mit der Arbeit "Amicus Curiae – Richterliche Informationsbeschaffung durch Beteiligung Dritter". Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.
Amicus Curiae-Stellungnahmen bei Gericht: . In: Legal Tribune Online, 25.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31131 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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