Noch zögert die Ampel, die verfassungsrechtlich umstrittene Erweiterung der StPO bei der Wiederaufnahme schwerster Verbrechen rückgängig zu machen. Hamburg und andere Länder erhöhen deshalb jetzt den Druck.
Im Schweinsgalopp hatte die Große Koalition (GroKo) kurz vor Ende der vergangenen Wahlperiode die wohl umstrittenste Änderung in der Strafprozessordnung (StPO) seit langem durchgesetzt. Ein neuer § 362 Ziff. 5 StPO sieht vor, dass u.a. in Fällen von Mord oder Völkermord eine spätere Wiederaufnahme des Verfahrens auch bei rechtskräftigem Freispruch des Angeklagten möglich ist – wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Freigesprochenen ergibt.
Gegen einen solche "Freispruch unter Vorbehalt" hatten Verfassungsrechtler:innen, Strafrechtler:innen, Anwaltsverbände, das Bundesjustizministerium (BMJ) und zuletzt sogar der Bundespräsidenten erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken geäußert.
Doch weil aus dem BMJ, das mit Marco Buschmann von einem FDP-Abgeordneten geleitet wird, der in der vergangenen Wahlperiode noch gegen das Gesetz gestimmt hatte, es im Hinblick auf eine "Reform der Reform" immer noch heißt, die Prüfung des weiteren Vorgehens sei innerhalb der Bundesregierung noch nicht abgeschlossen, wollen ihn jetzt einige Bundesländer zum Handeln bewegen. Schließlich wurde die möglicherweise verfassungswidrige Vorschrift jetzt erstmals auch von einem Gericht angewandt.
Laut LTO-Informationen soll das Thema nunmehr bei der Anfang Juni in Bayern stattfindenden Frühjahrs-Justizministerkonferenz (JuMiKo) auf die Tagesordnung. Die Initiative hierfür kommt vom Land Hamburg.
"Diese Neuregelung ist das Ergebnis einer überstürzten Gesetzgebung. Sie wurde im Hauruckverfahren ohne ausreichende parlamentarische Beratung durchgepeitscht", sagt Anna Gallina (Grüne), die Hamburger Justizsenatorin.
"Verfassungsgemäßen Rechtszustand wiederherstellen"
Ähnlich klang zuletzt eigentlich auch der Bundesjustizminister: Die Änderung in der StPO sei "quasi in letzter Minute durchgedrückt" worden sei. "Und das bei einer verfassungsrechtlich sensiblen Materie, wo man normalerweise die fachliche Meinung des Justizministeriums schon stark berücksichtigt", sagte Buschmann im Januar gegenüber dpa.
Doch die Kritik aus Hamburg an der Hopplahopp-Gesetzgebung der GroKo ist nur das eine. Gallina zufolge muss das Gesetz nicht bloß näher geprüft, sondern wieder ganz rückgängig gemacht werden: "Die Regelung verstößt gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals vor Gericht gestellt werden darf." Es müsse, so Gallina, ein verfassungsgemäßer Rechtszustand wiederhergestellt werden. "Das Gesetz zu solch einem 'Freispruch unter Vorbehalt' muss aufgehoben werden."
Auf der JuMiKo im Juni in München will Hamburg daher einen Beschlussvorschlag vorlegen, in dem Marco Buschmann explizit darum gebeten wird, zur Wiederherstellung des verfassungsgemäßen Rechtszustandes die Initiative zur Aufhebung des Gesetzes in seiner Gesamtheit zu ergreifen.
JuMiKo 2020 beschloss Erweiterung
Schon jetzt zeichnet sich allerdings ab, dass es Justizsenatorin Gallina schwer haben wird, eine Mehrheit für Ihre Initiative zu erlangen. Im Herbst 2020 hatten sich die Justizminister:innen der Länder auf Ihrer Herbstkonferenz in Bremen schon einmal mit der Thematik befasst – und die damalige Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) um einen Gesetzentwurf für das genaue Gegenteil gebeten. Nämlich um einen zur "Erweiterung der Vorschriften der Strafprozessordnung zur Wiederaufnahme für Fälle schwerster Verbrechen, bei denen aufgrund neuer wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden nachträglich der Nachweis der Täterschaft überwiegend wahrscheinlich ist".
Dieser Bitte kam damals zwar nicht die in der Sache skeptische SPD-Ministerin Lambrecht nach, dafür aber im Bundestag die Fraktionen der GroKo.
Gegen die Einführung einer neuen StPO-Vorschrift hatten 2020 neben Hamburg nur die Länder Sachsen-Anhalt, Berlin, Thüringen und Rheinland-Pfalz gestimmt, Bremen hatte sich enthalten. Im September 2021 winkte dann auch der Bundesrat die umstrittene Vorschrift durch, nachdem zuvor ein Antrag von Thüringen, Berlin, Hamburg und Sachsen gegen die Gesetzesänderung keine Mehrheit gefunden hatte.
An den Positionen der Bundessländer scheint sich nun – auch nach den zwischenzeitlich vom Bundespräsidenten geäußerten massiven Bedenken – nicht viel geändert zu haben.
Länder weiter gespalten
Auf Nachfrage von LTO hört man aus den Ländern, die schon immer für die Regelung votiert hatten, allenfalls verhaltene Bereitschaft, die Reform "wieder aufzumachen". So etwa aus dem NRW-Justizministerium: "Einer erneuten verfassungsrechtlichen Überprüfung des Gesetzes, wie vom Bundespräsidenten und Bundesjustizminister angeregt, wird sich der Minister der Justiz nicht verschließen. Allerdings sollte hierbei eine weitere Schärfung der gesetzlichen Vorgaben, nicht aber die Streichung der erweiterten Wiederaufnahmemöglichkeit im Mittelpunkt stehen. Ein konkreter Regelungsvorschlag, zu dem sich die Landesregierung zu gegebener Zeit positionieren wird, bleibt abzuwarten."
Ähnliche Töne kommen auch aus Kiel: "Wir halten an der Grundposition zugunsten einer Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeit fest, wie sie in dem Beschluss der Justizministerkonferenz aus dem Herbst 2020 zum Ausdruck gekommen ist,“ so der Sprecher des Schleswig-Holsteinischen Justizministeriums. Auch von Bayern, dem Gastgeber der nächsten JuMiKo, ist keine Neu-Positionierung zu erhoffen: "Eine vollständige Streichung des § 362 Nr. Ziff. StPO würde Bayern nicht unterstützen", heißt aus dem Ministerium in München.
Eine klare, anderslautende Ansage macht dagegen der vom CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer regierte Freistaat Sachsen: "Das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung teilt die vom Bundesminister der Justiz geäußerten Bedenken gegen die Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten", erklärt eine Sprecherin gegenüber LTO. Eine Initiative, die auf die Abschaffung von § 362 Nr. 5 StPO gerichtet sei, werde man unterstützen.
"Freispruch unter Vorbehalt" bei schwersten Verbrechen: . In: Legal Tribune Online, 23.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47922 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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