Reform der Wiederaufnahme bei schwersten Straftaten: "Das BVerfG wird dem OLG Celle folgen"

Gastbeitrag von Prof. Dr. Michael Kubiciel

25.04.2022

Nachdem das OLG Celle die hoch umstrittene Wiederaufnahme-Vorschrift für verfassungskonform erachtet hat, dürfte diese bald in Karlsruhe überprüft werden. Michael Kubiciel ist überzeugt, dass die Regelung auch vom BVerfG akzeptiert wird.

Ende Dezember des vergangenen Jahres ist eine Änderung der Strafprozessordnung (StPO) in Kraft getreten, die Aufsehen wie wenig andere erregt hat. Nach dem neuen § 362 Nr. 5 StPO kann ein durch rechtskräftigen Freispruch beendetes Verfahren wiederaufgenommen werden, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechens gegen eine Person verurteilt wird.

Aufgrund ihres Zuschnitts könnte die Norm künftig auch in Verfahren gegen russische oder syrische Kriegsverbrecher relevant werden, die zunächst freigesprochen worden sind, denen aber – etwa nach einem Regime-Change – die Täterschaft nachzuweisen ist. Gegenwärtig relevant ist die Vorschrift für ein Tötungsverbrechen, dem vor mehr als vierzig Jahren die 17-jährige Frederike von Möhlmann zum Opfer gefallen ist. Im Februar 2022 hat die Staatsanwaltschaft Lüneburg die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen einen Mann beantragt, der 1983 vom Vorwurf des Mordes freigesprochen worden ist. Auf Grundlage eines Beschlusses des Landgerichts (LG) Verden sitzt dieser seither in Untersuchungshaft, das beantragte Wiederaufnahmeverfahren wurde für zulässig erachtet.

Faktische Grundlage der Wiederaufnahme sind molekulargenetische Untersuchungen, die im ersten Verfahren noch nicht möglich waren. Die rechtliche Grundlage bildet mit § 362 Nr. 5 StPO eine Vorschrift, über die seit zwei Jahrzehnten diskutiert wird. Vor allem Politiker der SPD sowie SPD-geführte Landesregierungen hatten sich für eine entsprechende Vorschrift stark gemacht, die Reform blieb aber, trotz mehrfacher verfassungsrechtlicher Prüfung, bis zuletzt umstritten. Noch vor Ausfertigung des Gesetzes hatte Bundespräsident Steinmeier Bedenken artikuliert. Er habe, ließ er mitteilen, Zweifel an der Vereinbarkeit des Gesetzes mit Art. 103 Abs. 3 GG; die Vorschrift scheine das dort verankerte Verbot der Mehrfachverfolgung (ne bis in idem) "in nicht lediglich marginaler Weise einzuschränken".

Ausführliche Erörterung der verfassungsrechtlichen Fragen

Diese Zweifel teilt das Oberlandesgericht (OLG) Celle nicht. In seinem ausführlichen Beschluss vom 20. April setzt sich der Senat differenziert mit der verfassungsrechtlichen Problematik und dem Schrifttum auseinander (Az. 2 Ws 62/22).

Überzeugend weist der Senat zunächst das Argument zurück, Art. 103 Abs. 3 GG stünde jeder Erweiterung der Wiederaufnahmeregeln entgegen, da das vor Inkrafttreten des Grundgesetzes geltende Recht die einzige verfassungsimmanente Schranke sei, die die Väter und Mütter der Verfassung akzeptiert hätten. Für eine derart restriktive Auslegung von Art. 103 Abs. 3 GG böten die Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes keine Grundlage, so der Senat. Im gesamten Verlauf der Beratungen des Parlamentarischen Rates und seiner Gremien sei die Frage der Begrenzung des Schutzbereichs von Art. 103 Abs. 3 GG und der Durchbrechungen des in ihm verankerten ne bis in idem-Grundsatzes nicht näher erörtert worden. Vor allem seien die in der damals geltenden § 402 Nrn. 1-4 Reichsstrafprozessordnung enthaltenen Tatbestände für die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zuungunsten des Betroffenen nicht näher diskutiert worden.

Wenn somit § 362 StPO keiner verfassungshistorischen Veränderungssperre unterliegt, kann der Gesetzgeber weitere Wiederaufnahmegründe hinzufügen, solange der Kerngehalt des Art. 103 Abs. 3 GG gewahrt und die Wiederaufnahme die verfassungsrechtlich ausreichend begründete Ausnahme von der Regel "ne bis in idem" bleibt.

Auf zehn Seiten zeichnet das OLG Celle ausführlich und überzeugend nach, warum die neue Regelung nicht den vielfach beklagten Tabubruch darstellt. Vielmehr lasse sie sich mit Vorschriften in der StPO oder im Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) vergleichen, die ebenfalls eine Wiederaufnahme von Verfahren zulasten des Einzelnen aufgrund neuer Beweise ermöglichen. Verfahren, die nach § 373a StPO, § 85 Abs. 3 OWiG oder dem neuen § 362 Nr. 5 StPO wiederaufgenommen werden dürfen, sei bei allen strukturellen Unterschieden "wesentlich gemein, dass nach ihrem Abschluss eine grundsätzlich identische Rechtskraft eintritt (vgl. § 410 Abs. 3 StPO)". Deshalb seien sie im Hinblick auf das aus Art. 103 Abs. 3 GG folgende Verbot der Mehrfachverfolgung durchaus miteinander vergleichbar. Auch sprenge die Neuregelung nicht die Binnensystematik des § 362 StPO, da der neue Wiederaufnahmegrund durchaus mit einem Geständnis vergleichbar sei, das ebenfalls einen dringenden Grund für die Annahme der Täterschaft eines zuvor Freigesprochenen bilde.

OLG Celle: Bei schwersten Straftaten hat materielle Gerechtigkeit Vorrang 

Insgesamt, so der Senat, habe der Gesetzgeber für Fälle denkbar schwerster Straftaten eine eng umrissene Ausnahmekonstellation geschaffen, der unter dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit eine herausragende Bedeutung zukomme und die sich im Rahmen der vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ausdrücklich eingeräumten Möglichkeit der Weiterentwicklung des in Art. 103 Abs. 3 GG bewege. Die "gesetzgeberische Wertentscheidung, im Fall von schwersten Verbrechen gegen das Leben der materiellen Gerechtigkeit unter den engen Anwendungsvoraussetzungen des Wiederaufnahmegrundes in § 362 Nr. 5 StPO gegenüber der Rechtssicherheit den Vorrang einzuräumen", finde sich kongruent auch in der lebenslangen Freiheitsstrafe für diese Straftaten und ihrer Unverjährbarkeit wieder. Die hohen Hürden des § 362 Nr. 5 StPO sowie die gerichtliche Prüfung von Zulässigkeit und Begründetheit des Wiederaufnahmeantrages trügen den Interessen des Freigesprochenen hinreichend Rechnung. Die Regelung sei daher verhältnismäßig.

Auch einen Verstoß gegen das allgemeine Rückwirkungsverbot kann das OLG Celle nicht erkennen. Mit Stimmen der Literatur geht der Senat davon aus, dass offenbleiben könne, ob es sich um eine echte oder unechte Rückwirkung handelt. Denn auch bei der Annahme einer echten Rückwirkung wären die vom BVerfG an deren Zulässigkeit gestellten besonders hohen Anforderungen erfüllt. Das trifft zu: Wenn die Verfolgung der schwersten Straftaten, die das deutsche und internationale Recht kennen, keinen hinreichenden Grund für eine Rückwirkung der strafprozessualen Wiederaufnahme darstellen, welche dann?

Das letzte Wort wird, soviel ist sicher, das Bundesverfassungsgericht sprechen müssen. Dass es zu einem anderen Ergebnis gelangt als das OLG Celle, ist wenig wahrscheinlich. Weder können die Verfassungsrichter:innen die Verfassungsgeschichte in eine Art Veränderungssperre des § 362 StPO umdeuten, noch kann das Gericht die rechtspolitische Abwägung des Gesetzgebers durch eine eigene ersetzen.

Stellt sich die SPD-Fraktion gegen Marco Buschmann?

Bei der Abwägung muss das BVerfG vielmehr den vom OLG Celle nachgezeichneten Konflikt zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit nach Maßgabe ebenjener strafprozessualen Strukturen und Zielbestimmungen entscheiden, die der Celler Strafsenat umfangreich gewürdigt hat. Diese Würdigung ist nach hier vertretener Auffassung richtig; jedenfalls ist sie gut begründet, damit vertretbar und keinesfalls willkürlich.

Folglich werden die Karlsruher Richter:innen dieser fachgerichtlichen Analyse der Strafprozessordnung keine andere als verfassungsrechtlich zwingend entgegenhalten können. Zu einer Entscheidung teilrechtsspezifischer dogmatischer Fragen  neigt das Gericht ohnehin nicht, wie etwa die Jones-Day-Entscheidung zur Beschlagnahme der Ergebnisse interner Untersuchungen gezeigt hat. Man mag das Ergebnis für rechtspolitisch falsch halten. Für politische Korrekturen aber ist nicht das BVerfG zuständig, sondern der Deutsche Bundestag.

Der Ball liegt damit im politischen Feld, genauer: auf der Seite der Ampel-Koalition. Und auch wenn FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann starke Sympathien für eine Revidierung von § 362 Nr.5 StPO hegt, dürfte letztlich das Votum der SPD-Fraktion entscheidend sein. Diese müsste nach nur vier Monaten der Streichung eines Gesetzes zustimmen, für das sie und SPD-geführte Landesregierungen zwanzig Jahre gekämpft haben.

Mit zwingenden Gründen des Verfassungsrechts wird sie diese politische Volte jedenfalls nicht rechtfertigen können.

Der Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel lehrt Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Augsburg.

Zitiervorschlag

Reform der Wiederaufnahme bei schwersten Straftaten: . In: Legal Tribune Online, 25.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48236 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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