Weder die alte noch die neue Bundesregierung haben es geschafft, die Whistleblower-Richtlinie rechtzeitig in nationales Recht umzusetzen. Whistleblower stehen dennoch nicht gänzlich schutzlos da, meinen Laura Feldner und Mario Merget.
Bis zum 17. Dezember 2021 sollten die Mitgliedstaaten die EU-Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (EU-Richtlinie 2019/1937 vom 23.10.2019, kurz "Whistleblower-Richtlinie") in nationales Recht umsetzen. In Deutschland wurde kein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Ein erster Entwurf scheiterte in der vergangenen Legislaturperiode an Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Großen Koalition.
Die neue Bundesregierung gibt in ihrem Koalitionsvertrag zu erkennen, dass sie sich der nationalen Umsetzungspflicht bewusst ist. Die Whistleblower-Richtlinie soll danach "rechtssicher und praktikabel" umgesetzt werden. Ein konkreter Umsetzungszeitraum wird zwar nicht genannt. Das nunmehr FDP-geführte Justizministerium hat aber jüngst einen alsbaldigen Gesetzesentwurf angekündigt.
Die Koalitionäre teilen in ihrem Vertrag mit, dass sie eine überschießende Umsetzung beabsichtigen: Whistleblower sollen sowohl bei der Meldung von Verstößen gegen EU-Recht als auch bei der Meldung von erheblichen Verstößen gegen Vorschriften oder sonstigem erheblichen Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt, geschützt werden. Außerdem sollen Ansprüche des Whistleblowers wegen Repressalien (z. B. Kündigung, Suspendierung, Degradierung, Versagung einer Beförderung, Versetzung oder Abmahnung) besser durchgesetzt werden können. Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote sollen von der Regierung geprüft werden. Weitere Einzelheiten zum Umsetzungsvorhaben der Ampelkoalitionäre lassen sich ihrem Koalitionsvertrag aber nicht entnehmen.
Mangels rechtzeitiger Umsetzung stellt sich aktuell die Frage, welche Wirkung die Whistleblower-Richtlinie bis zur Verabschiedung eines Umsetzungsgesetzes hierzulande entfaltet. Dies betrifft konkret zum einen die in der Whistleblower-Richtlinie vorgesehene verbindliche Einrichtung interner und externer Meldestellen sowie den Schutz für Whistleblower vor Repressalien. Grundsätzlich gilt, dass EU-Richtlinien keine unmittelbare Wirkung entfalten, sondern eines nationalen Umsetzungsaktes bedürfen. Einzelne Richtlinienvorgaben können aber ausnahmsweise auch ohne rechtzeitige Umsetzung im nationalen Recht eine unmittelbare Wirkung entfalten, wenn die Umsetzungsfrist der Richtlinie abgelaufen ist, die konkrete Bestimmung inhaltlich unbedingt und hinreichend genau bestimmt ist und die konkrete Bestimmung keine rechtlichen Verpflichtungen für Privatpersonen enthält.
Noch keine Einrichtungspflicht für Unternehmen
Aus diesen Voraussetzungen folgt für den privaten Sektor eine eindeutige Rechtslage im Hinblick auf die verpflichtende Einrichtung interner Hinweisgeber-Systeme: Unter Zugrundelegung der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) führt die Whistleblower-Richtlinie zu keiner unmittelbaren Einrichtungspflicht für natürliche und juristische Personen des Privatrechts.
Dieses Ergebnis überzeugt, denn Unternehmen sollten nicht für die mangelnde oder fehlerhafte Umsetzungsaktivität ihres Mitgliedstaates bestraft werden. Sofern deutsche Unternehmen bislang auf die Etablierung interner Hinweisgeber-Systeme verzichtet haben, die den Vorgaben der Whistleblower-Richtlinie genügen, müssen sie daher aufgrund der Whistleblower-Richtlinie derzeit keine rechtlichen Konsequenzen fürchten.
Staatliche Stellen müssen Meldekanäle vorhalten
Anders sieht es für juristische Personen des öffentlichen Sektors aus. In Abgrenzung zu Privatpersonen nimmt der Unionsgesetzgeber mit der Einrichtungspflicht für den öffentlichen Sektor staatliche Akteure bzw. mit staatlichen Aufgaben betraute Stellen/Einrichtungen in die Pflicht. Für diese ist eine unmittelbare Wirkung von Richtlinienvorgaben gerade nicht ausgeschlossen. Zudem normiert Art. 9 Whistleblower-Richtlinie auch weitestgehend konkrete und inhaltlich unbedingte Vorgaben für die Gestaltung interner Hinweisgeber-Systeme.
Die Einrichtungspflicht für juristische Personen des öffentlichen Sektors wirkt daher seit dem 18. Dezember 2021 unmittelbar. Sie richtet sich an alle juristischen Personen des öffentlichen Sektors. Zwar sieht Art. 8 Abs. 9 UAbs. 2 Whistleblower-Richtlinie eine Abweichungsmöglichkeit für Kommunen mit weniger als 10.000 Einwohnern oder sonstige staatliche Stellen mit weniger als 50 Arbeitnehmern vor. Diese Ausnahme kann allerdings erst über ein Umsetzungsgesetz des deutschen Gesetzgebers greifen, sie gilt bisher also nicht. Alle juristische Personen des öffentlichen Sektors müssen deshalb nach aktueller Rechtslage eigene interne Hinweisgeber-Systeme vorhalten.
Noch keine zentrale externe Meldestelle
Von dieser im öffentlichen Sektor unmittelbar wirkenden Einrichtungspflicht interner Hinweisgeber-Systeme zu unterscheiden ist die Frage nach der Einrichtung staatlicher "Whistleblowing-Behörden" (sog. externe Hinweisgeber-Systeme). Diese sollen nach dem Willen des europäischen Gesetzgebers als Ergänzung zu den internen Meldestellen eine (zentrale) externe Anlaufstelle für Whistleblower bieten, weshalb auch insoweit eine verbindliche Einrichtung vorgesehen ist (Art. 11 Whistleblower-Richtlinie).
Allerdings entfaltet diese Richtlinienvorgabe nach unserer Einschätzung im Ergebnis keine unmittelbare Wirkung. Zwar hat der Unionsgesetzgeber in Art. 12 Whistleblower-Richtlinie auch für externe Hinweisgeber-Systeme umfangreiche Gestaltungsvorgaben aufgestellt. Die Mitgliedstaaten müssen allerdings als ersten Schritt diejenigen Behörden benennen, die befugt sein sollen, Meldungen entgegenzunehmen und entsprechende Folgemaßnahmen zu ergreifen sowie hierzu Rückmeldung zu geben.
Dementsprechend ist die Whistleblower-Richtlinie an dieser Stelle inhaltlich nicht hinreichend unbedingt, da es für die Benennung dieser "Whistleblowing-Behörden" noch eines konkreten Rechtssetzungsaktes durch die Mitgliedstaaten bedarf. Es besteht somit gegenwärtig keine Pflicht, nationale externe Hinweisgeber-Systeme einzurichten.
Schutz für Whistleblower nach Ablauf der Umsetzungsfrist
Die Whistleblower-Richtlinie schützt Whistleblower vor Repressalien wie bspw. einer Kündigung, wenn der Whistleblower keine vorsätzliche oder grob fahrlässige Falschmeldung erstattet und sich an die vorgesehenen internen oder externen Meldestellen gewandt hat (Art. 6 Abs. 1 Whistleblower-Richtlinie). Ein Hinweis an die Öffentlichkeit wird hingegen nur in besonderen Ausnahmefällen (z. B. bei einer unmittelbaren oder offenkundigen Gefährdung des öffentlichen Interesses) geschützt.
Mangels deutschen Umsetzungsgesetzes können sich Whistleblower seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist zwar nicht in dem vom europäischen Gesetzgeber beabsichtigten Umfang, sondern nur in bestimmten Fallkonstellationen direkt auf diesen hohen Schutz berufen. Im Ergebnis dürften sie dennoch aufatmen, weil sie nicht gänzlich schutzlos sind:
Beschränkte unmittelbare Wirkung der Schutzvorgaben
Für Whistleblower, die im privaten Sektor beschäftigt sind, scheidet ein Schutz durch die Richtlinienvorgaben bereits mangels direkter Wirkung der Richtlinie im Privatrechtsverhältnis aus. Sie können sich gegenüber ihrem Arbeitgeber deshalb nicht unmittelbar auf die Schutzvorgaben der Whistleblower-Richtlinie berufen. Zudem wird ein Schutz nur dann gewährt, wenn die Meldung über die speziell eingerichteten internen oder externen Hinweisgeber-Systeme abgegeben wurde. Für deren Einrichtung besteht im privaten Sektor – wie ausgeführt – aber ohne Umsetzungsgesetz gerade keine Pflicht. Regelmäßig dürften deshalb schon die Schutzvoraussetzungen nicht erfüllt sein, weil eine Meldung an die speziellen Hinweisgeber-Systeme gar nicht möglich ist.
Anderes gilt hingegen wiederum im öffentlichen Sektor. Hier können die Schutzvorgaben für Whistleblower unmittelbar greifen, sofern ihre Voraussetzungen erfüllt sind – die Meldung also insbesondere an die (auch ohne Umsetzungsgesetz) verpflichtend einzurichtenden internen Meldekanäle der jeweiligen öffentlichen Einrichtung abgegeben wurde.
Richtlinienkonforme bzw. richtlinienorientierte Auslegung
Auch ohne unmittelbare Wirkung der Schutzvorgaben der Whistleblower-Richtlinie im privaten Sektor können sich die Richtlinienvorgaben nach unserer Einschätzung aber dennoch schon jetzt auch auf das private Arbeitsverhältnis auswirken und Whistleblower schützen. Sei dem Ablauf der Umsetzungsfrist sind die Arbeitsgerichte nämlich zu einer richtlinienkonformen Auslegung des deutschen Rechts verpflichtet. Sofern deshalb nationale Normen wie etwa die Rücksichtnahmepflicht aus § 241 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) oder das Maßregelungsverbot aus § 612a BGB richtlinienkonform bzw. richtlinienorientiert ausgelegt werden (müssen), kann die Whistleblower-Richtlinie auch gegenüber Privatpersonen eine (mittelbare) Wirkung entfalten.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Arbeitsgerichte unabhängig vom Vorliegen eines Umsetzungsgesetzes bei ihrer Entscheidung über den Schutz eines Whistleblowers schon heute eng an den Schutzvorgaben der Whistleblower-Richtlinie orientieren werden. Künftig könnte für den Schutz eines Whistleblowers vor einer Kündigung daher etwa weder ein vorheriger innerbetrieblicher Abhilfeversuch erforderlich noch eine verwerfliche Motivation schädlich sein. Whistleblower wären dann in klarer Abkehr von der bisherigen Rechtslage vor Repressalien geschützt.
Zum jetzigen Zeitpunkt kann allerdings kaum vorhergesagt werden, wie die Rechtsprechung auf die fehlende Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie und ihre Schutzvorgaben reagieren wird. Dies bleibt daher abzuwarten und zu beobachten. Sicher ist aber, dass der nächste „Whistleblower-Fall“ vor den deutschen Arbeitsgerichten mit Spannung erwartet werden darf.
Insgesamt besteht aufgrund der Nichtumsetzung der Whistleblower-Richtlinie derzeit eine komplexe Rechtslage, die Unsicherheiten birgt. Die neue Bundesregierung hat es hier in der Hand, das Potpourri an Wirkungen der Whistleblower-Richtlinie im deutschen Recht durch eine rasche Umsetzung zu beseitigen und für Rechtssicherheit zu sorgen. Vielleicht wird dazu auch der seinerzeit verschmähte Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums noch einmal aus der Schublade geholt.
Laura Feldner ist Senior Associate bei Noerr in München. Dr. Mario Merget ist ebenfalls Senior Associate und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Noerr in Berlin. Beide sind im Fachbereich Employment & Pensions tätig und beschäftigen sich dort mit den Vorgaben der Whistleblower-Richtlinie für Unternehmen.
Ablauf der Umsetzungsfrist der Whistleblower-Richtlinie: . In: Legal Tribune Online, 11.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47172 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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