Wahlpflicht in Deutschland: Und bist du nicht willig…

von Prof. Dr. Uwe Volkmann

11.09.2013

Mit allerlei Kampagnen und prominenten Fürsprechern versuchen verschiedenste Seiten das müde Wahlvolk zum Urnengang zu motivieren. Dabei ginge es doch viel einfacher: Man müsste das Wahlrecht bloß in eine Wahlpflicht umgestalten. Zur rechtlichen Möglichkeit und praktischen Sinnhaftigkeit einer zwangsweisen Teilhabe am demokratischen Leben macht sich Uwe Volkmann Gedanken.

Dass Wählen Bürgerpflicht sei, ist gerade jetzt wieder häufig zu lesen. In einem moralischen Sinne ist das sicher richtig oder lässt sich jedenfalls hören: Sieht man in der Demokratie eine Ordnung, die langfristig und nach Abwägung gegen die möglichen Alternativen in jedermanns Vorteil liegt, so müsste unter Gesichtspunkten gerechter Lastenverteilung an sich auch jeder zu ihr beitragen.

Nimmt aber an einer Wahl niemand teil, wird sie undurchführbar und bricht das System zusammen. Jeder Nichtwähler profitiert also davon oder muss darauf bauen, dass sich andere statt seiner der entsprechenden Mühe unterziehen. Moralisch kein schöner Zug, der an den Schwarzfahrer in der U-Bahn denken lässt: Auch der lebt davon, dass es andere gibt, die weiter brav ihren Obolus entrichten und die ganze Einrichtung überhaupt erst möglich machen.

Aber dürfte man die Bürger auch rechtlich zum Wählen verpflichten? Anderen Ländern mit durchaus vorzeigbarer demokratischer Tradition ist eine solche Wahlpflicht nicht fremd, wie die Beispiele Belgiens oder Australiens zeigen; auch Österreich kannte lange Zeit eine Wahlpflicht. Mit Blick auf grassierende Politikmüdigkeit und abnehmende Wahlbeteiligung wird nun auch hierzulande vereinzelt über ihre Einführung diskutiert.

Die Wahl selbst ist frei – aber auch die Teilnahme?

Um jede solche Diskussion schon im Keim zu ersticken, wenden Gegner des Konzepts oft ein, dass nach Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) die Wahlen "frei" sein müssten: Das schließe jede Form von Zwang hinsichtlich der Stimmabgabe aus.

Das wäre allerdings nur dann richtig, wenn sich die Freiheit der Wahl nicht nur auf den Inhalt der Stimmabgabe, sondern darüber hinausgehend auch schon auf die Teilnahme an der Wahl als solche bezöge, und auch unter dieser Prämisse wäre erst noch zu überlegen, ob der in einer Wahlpflicht liegende Eingriff in diese Freiheit nicht durch andere Gründe von verfassungsrechtlichem Gewicht legitimiert werden könnte. Bezieht sich die Freiheit der Wahl dagegen von vornherein nur auf den jeweiligen Inhalt der Stimmabgabe, wäre eine Wahlpflicht jedenfalls dann mit ihr vereinbar, wenn es weiter die Möglichkeit der Enthaltung gäbe oder der Wähler seine Stimme zumindest sanktionslos ungültig machen könnte.

Mit den Mitteln herkömmlicher Interpretation oder überhaupt irgendeiner Form der Logik lässt sich die Frage nicht beantworten: Der Text selbst fügt sich beiden Deutungen, und die Entstehungsgeschichte gibt für die Entscheidung kaum etwas her. Die Antwort kann also nur vom jeweils zugrunde gelegten Demokratieverständnis aus erfolgen, in das auch die Wahlgrundsätze eingebettet sind und von dem aus sie interpretiert werden müssen.

Demokratie als Nebeneinander oder Miteinander

Versteht man unter Demokratie eine rein statistische Zuordnung von Mehrheit und Mehrheit, bei der lauter einzelne und voneinander isolierte Individuen legitimerweise bloß ihre privaten Interessen verfolgen, müsste es konsequenterweise auch dem Belieben jedes Einzelnen überlassen bleiben, ob er wählen geht oder nicht. Versteht man demgegenüber unter Demokratie der Sache nach ein gemeinsames Unternehmen von Bürgern, die ihre kollektiven Angelegenheiten kollektiv regeln wollen, schließt das automatisch auch eine bestimmte Form gegenseitiger Verantwortlichkeit ein.

In diesem Grundsatzstreit, der die politische Philosophie bis heute durchzieht, hat sich das Bundesverfassungsgericht von Anfang an gegen ein rein statistisches und für ein stärker gemeinschaftliches Verständnis ausgesprochen, aus dem heraus einzelne Akteure des politischen Prozesses – etwa der Rundfunk oder die politischen Parteien – für diesen in die Pflicht genommen werden.

Das passt zum allgemeinen Menschenbild des Grundgesetzes, das nach der bekannten Formel des Gerichts nicht auf das souveräne, selbstherrliche Individuum zielt, sondern auf die auch in der Gemeinschaft stehende und ihr vielfältig verpflichtete Persönlichkeit. In ein solches Profil fügte sich auch eine Wahlpflicht ein, so wie sie eben in anderen demokratischen Staaten bereits Realität ist.

Wahlpflicht: Möglich schon, aber sinnvoll?

Verfassungsrechtlich wäre gegen eine solche Wahlpflicht also nichts einzuwenden. Die andere Frage ist, ob ihre Einführung wirklich eine gute Idee wäre. Dafür spricht, dass sie jedermann den öffentlichen Wert von Demokratie und gerade die Bedeutung von Wahlen vor Augen führt. Im Übrigen nehmen auch die Nichtwähler, ob sie es wollen oder nicht, indirekt Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments und möglicherweise sogar auf die Regierungsbildung.

Geht man etwa hinsichtlich der FDP für die kommende Bundestagswahl von einem relativ sicher mobilisierbaren Stamm von etwa zwei Millionen Wählern aus, hinge es letztlich von der Höhe der Wahlbeteiligung und damit auch von den Nichtwählern ab, ob sie die Fünf-Prozent-Hürde letztlich überspringt oder nicht. Grund genug also, um über die Entscheidung zumindest sorgfältig nachzudenken.

Ob jedoch die Demokratie am Ende dadurch an Attraktivität gewinnt, dass man die Teilnahme an ihr verpflichtend macht, steht auf einem anderen Blatt. Chronischer Politikmüdigkeit kommt man mit Bußgeldverfahren nicht bei. Wichtiger als die tatsächliche Einführung einer Wahlpflicht ist deshalb allemal die öffentliche Diskussion darüber: weil sie jedermann vor Augen führt, dass hier ein Bereich betreten ist, der wichtig ist und alle angeht.

Und weil gerade solche Diskussionen jenen sanften Druck erzeugen, den moralische Pflichten hin und wieder brauchen, um von der großen Mehrheit auch in Zukunft ohne großes Aufhebens befolgt zu werden. Das vorschnelle Herumwedeln mit den Freiheitsprinzipien der Verfassung ist dann in jedem Sinne kontraproduktiv.

Der Autor Prof. Dr. Uwe Volkmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Zitiervorschlag

Wahlpflicht in Deutschland: . In: Legal Tribune Online, 11.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9537 (abgerufen am: 02.11.2024 )

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