Vorratsdatenspeicherung nach EuGH-Urteil: "EU muss Datenweitergabe an die USA neu verhandeln"

Interview mit Prof. Dr. Franziska Boehm

28.07.2014

Im Auftrag der Grünen im Europaparlament hat die IT- und Medienrechtlerin Franziska Boehm gemeinsam mit einem Kollegen aus Luxemburg die Folgen des EuGH-Urteils zur Vorratsdatenspeicherung untersucht: Die EU-Richter hätten strenge Maßstäbe für den Datenschutz in Europa gesetzt und die Kommission sei gefordert, die anlasslose Weiterleitung sämtlicher Bank- und Passagierdaten mit den USA neu zu verhandeln.

LTO: In Ihrer Studie (Zusammenfassung) sprechen Sie von einem "Schlüsselurteil" – was macht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Vorratsdatenspeicherung so wichtig?

Boehm: Es passiert sehr selten, dass der EuGH eine Richtlinie in ihrer Gesamtheit für nichtig erklärt, also nicht nur einzelne Vorschriften. Das war nötig, weil die Richtlinie sehr schwere Grundrechtseingriffe zur Folge hatte  und diese auch nicht mehr durch Veränderungen der Bestimmungen korrigiert werden konnten.

Der EuGH prüft außerdem zum ersten Mal Art. 7 und 8 der EU-Grundrechtecharta gemeinsam, also die Rechte auf Privatsphäre und Datenschutz. Er tut das sehr ausführlich und stellt Kriterien für künftige Datenschutz-Prüfungen auf. Die allerwichtigste Feststellung: Eine anlasslose Speicherung von Daten auf Vorrat, um diese später einmal für die Strafverfolgung zu nutzen, ist nicht mit EU-Grundrechten vereinbar.

LTO: Dass eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung schlechthin unmöglich sein soll,  würde nicht jeder unterschreiben. Auf welche Passage des Urteils stützen Sie diese Auslegung?

Boehm: Wir sagen nicht, dass es nie wieder eine Form der Vorratsdatenspeicherung geben wird. In konkret begründeten Fällen, in denen es einen Verdacht gibt, wird dies eventuell möglich sein. In Randnummer 58 fordert der Gerichtshof allerdings einen "Zusammenhang zwischen den Daten, deren Vorratsspeicherung vorgesehen ist, und einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit". Wie diese Verbindung ohne einen Anlass oder Anfangsverdacht hergestellt werden kann, erschließt sich uns nicht. Deswegen wird es sehr schwer sein, noch anlasslos auf Vorrat Daten zu speichern.

"Abkommen über Bank- und Passagierdaten müssen geändert werden"

LTO: Welche Folgen hat das EuGH-Urteil, die über die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung hinausgehen?

Boehm: Es betrifft alle Datensammlungen auf Vorrat, die nicht zum Zweck der Strafverfolgung bestehen, deren Daten aber für die Strafverfolgung genutzt werden, etwa die Abkommen der EU mit den USA über die anlasslose Weiterleitung von Bank- und Passagierdaten der europäischen Bürger. Diese Daten werden dann in  den USA  zu Zwecken der Terrorismusbekämpfung, aber auch der StProf. Dr. Franziska Boehmrafverfolgung genutzt.

Auch auf europäischer Ebene existieren bereits Datensammlungen, die teilweise für die Strafverfolgung genutzt werden können. Etwa Eurodac – in diesem System werden Fingerabdrücke von illegalen Einwanderern gespeichert. Die Zugriffsmöglichkeiten der Ermittler auf diese Datenbanken müssen jetzt überprüft und gegebenenfalls eingeschränkt werden.

Außerdem erteilt das Urteil Überlegungen eine Absage, auch auf europäischer Ebene anlasslos Bank- und Passagierdaten zu sammeln und auszuwerten.

LTO: Die Abkommen mit den USA und Eurodac sind aber nicht automatisch außer Kraft, soweit sie nicht den Vorgaben des EuGH entsprechen.

Boehm: Nein, aber der EU-Gesetzgeber muss sich auch an EU-Recht halten. Die EU-Kommission als Hüterin der Verträge muss diese Abkommen überprüfen und gegebenenfalls neu mit den USA verhandeln, um sie an die Rechtsprechung des EuGH anzupassen.

Für Bürger ist es sehr schwierig gegen diese Abkommen zu klagen  weil es auf europäischer Ebene keine Möglichkeit gibt, eine Individualbeschwerde etwa gegen ein internationales Abkommen zu erheben, so wie in Deutschland eine Verfassungsbeschwerde. Politischer Druck ist der einzige Weg, auf eine Veränderung hinzuwirken.

LTO: Welche Motivation sollten die USA haben, etwas an diesen Abkommen zu ändern?

Boehm: Es gibt immer wieder Verhandlungen auch über ein internationales Datenschutzabkommen mit den USA. Das EuGH-Urteil stärkt der europäischen Position dabei den Rücken.

"Luxemburg hat sich stark an der Rechtsprechung des EGMR orientiert"

LTO: Vor dem Urteil hat die EU Vertragsverletzungsverfahren gegen Länder eingeleitet, die die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nicht umgesetzt hatten. Muss sie jetzt gegen Mitgliedstaaten vorgehen, die ihre Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung behalten bzw. neue erlassen, wenn diese nicht mit den Vorgaben des EuGH vereinbar sind?

Boehm: Unserer Ansicht nach ja, weil die Kommission verpflichtet ist, EU-Recht durchzusetzen. Genau das hat sie ja vorher auch getan. Sicherlich muss sie den Staaten etwas Zeit und damit die Gelegenheit geben, die nationalen Gesetze anzupassen. Ich denke auch, dass Vertragsverletzungsverfahren letztlich nicht nötig sein werden. Die Mitgliedstaaten fangen ja schon an, ihre Gesetze zu ändern. In Österreich hat der dortige Verfassungsgerichtshof das nationale Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Großbritannien hat hingegen kein gutes Gesetz erlassen und es innerhalb einer Woche durch das Parlament gebracht. Ob dieser Schnellschuss den Vorgaben des EuGH standhält, muss noch überprüft werden. In den nächsten Monaten wird es weitere Staaten geben, die ihre Gesetze ändern werden.

LTO: Soweit das doch nicht passieren sollte, können die Bürger dagegen zunächst vor den nationalen Gerichten vorgehen und sich im Zweifel an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wenden. Aber wäre Straßburg denn überhaupt an das Urteil des EuGH gebunden?

Boehm: Theoretisch nicht, da die EU noch nicht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beigetreten ist. Es würde mich aber sehr wundern, wenn der EGMR anders entscheiden würde, weil sich der EuGH in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung stark an der Straßburger Rechtsprechung orientiert hat. Der EGMR hat  in diesem Bereich auch schon sehr viel mehr Entscheidungen zur Privatsphäre und zum Datenschutz getroffen als der EuGH. Der EuGH ist jetzt in weiten Teilen dem EGMR gefolgt. Daher wird ein Urteil aus Straßburg nicht viel anders ausfallen.

LTO: Eine Vorratsdatenspeicherung wird in Deutschland nach wie vor von einigen Politikern und vor allem von der Polizei gefordert. Sollten die EU und die Mitgliedstaaten eine neue Regelung in Angriff nehmen, die mit dem EuGH-Urteil vereinbar ist oder sollten es lieber ganz sein lassen?

Boehm: Es wird sehr schwierig sein, eine Regelung zur Vorratsdatenspeicherung zu finden, die den Vorgaben des EuGH entspricht. Die Richter haben da sehr wenig Spielraum gelassen. In speziellen Fällen mag das noch möglich sein, eine anlasslose und massenhafte Speicherung ist aber ausgeschlossen. Die Speicherung von Daten eines Verdächtigen ist dagegen ja schon heute möglich.

Prof. Dr. Franziska Boehm ist Juniorprofessorin am Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht – Zivilrechtliche Abteilung – der Universität Münster.

Das Interview führte Claudia Kornmeier.

Zitiervorschlag

Vorratsdatenspeicherung nach EuGH-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 28.07.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12694 (abgerufen am: 02.11.2024 )

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