Staatsanwaltschaft muss Verantwortlichkeit des Einzelnen prüfen
In Deutschland hingegen können nur natürliche Personen strafrechtlich belangt werden. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig wird demnach die tatsächlichen Akteure des Skandals und ihre jeweilige persönliche Verantwortlichkeit ermitteln müssen. Anders als in den USA kann nach deutschem Recht strafrechtlich nicht unmittelbar gegen den Konzern an sich ermittelt werden.
Dies wird von Ermittlern wie auch einigen Strafrechtswissenschaftlern und Politikern seit vielen Jahren bemängelt, weshalb sie die Einführung eines "Unternehmensstrafrechts" fordern. Jüngster Fürsprecher dieses Gedankens ist NRW-Justizminister Thomas Kutschaty, der 2013 den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden, kurz Verbandsstrafgesetzbuch, vorgelegt hat. Die VW-Affäre hat Kutschaty in einem Zeitungsinterview nun als Beleg dafür angeführt, dass Deutschland "dringend ein richtiges Unternehmensstrafrecht" brauche.
Kriminalpolitisch folgt der Entwurf dem Bedürfnis, die Unternehmen mit einer echten Strafe belangen zu können. Erreicht werden soll damit, dass nicht nur Einzelne als "Bauernopfer" für das Unternehmen herhalten müssen, wenn die Ursache für ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten in einer fehlgeleiteten Unternehmenskultur, in mangelnder Kontrolle oder womöglich von der Firmenleitung gedeckten Rechtsverstößen liegt.
Bußgelder gegen Unternehmen auch heute möglich
Faktisch gibt es in Deutschland allerdings schon jetzt Regelungen zur "Bestrafung" von Unternehmen im Ordnungswidrigkeitengesetz (§§ 30 und 130 OwiG). Danach ist die Verhängung einer Geldbuße gegen das Unternehmen möglich, wenn durch das Fehlverhalten des Führungspersonals Pflichten verletzt worden sind, die das Unternehmen treffen und/oder ein Aufsichtspflichtversagen nachgewiesen werden kann; nicht zwingend müssen die Täter bestraft werden. Die Verhängung der Geldbuße steht im Ermessen der Staatsanwaltschaft (Opportunitätsgrundsatz). In der Praxis macht die Staatsanwaltschaft oft dann von dieser Möglichkeit Gebrauch, wenn die strafrechtlichen Vorwürfe gegen das Führungspersonal eine unternehmenspolitische Dimension haben. Bekannt sind beispielsweise die Geldbußen im dreistelligen Millionenbereich gegen Siemens wegen Korruption sowie gegen Schweizer Großbanken wegen der Beihilfe zur Steuerhinterziehung ihrer Kunden.
Das vorgeschlagene Verbandsstrafgesetzbuch würde indes einen Schritt weiter gehen. Da im Unternehmensstrafrecht das Legalitätsprinzip gälte, könnte und müsste die Staatsanwaltschaft auch gegen den Konzern ermitteln, wenn hinreichende Anwaltspunkte dafür vorliegen, dass das Unternehmen in strafrechtlich relevante Vorgänge verstrickt ist, die sich nicht "nur" als Tat Einzelner, sondern als organisierte Unternehmenskriminalität werten lassen.
Ermittlungsbefugnisse blieben die gleichen
Würde dieses Unternehmensstrafrecht die Aufarbeitung der "Affäre VW" strafrechtlich erleichtern? Wohl kaum. Denn die Ermittlungsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft sind umfassend, wenn sich ein Anfangsverdacht gegen Einzelne ergibt – und der ist schnell begründet. Über diesen strafprozessualen Anker können schon heute umfassende Untersuchungen im Unternehmen durchgeführt, Beweismaterial beschlagnahmt und Mitarbeiter bis hinauf zu Vorstand und Aufsichtsrat vernommen werden. Darüber hinausgehende Ermittlungsbefugnisse könnte auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Konzerns selbst nicht begründen. Die Strafbarkeit der involvierten natürlichen Personen würde zudem natürlich fortbestehen.
Lassen sich keine Personen ermitteln, die strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, so kann die Staatsanwaltschaft nach aktueller Gesetzeslage nach §§ 30, 130 OWiG Unternehmensgeldbußen wegen des Fehlverhaltens von Führungspersonal oder wegen Aufsichtspflichtverletzungen im Millionenbereich verhängen. Dieses selbständige Verfahren setzt lediglich voraus, dass das oder die Ermittlungsverfahren gegen die beschuldigten Personen nicht nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden sind, dem sog. "Freispruch im Ermittlungsverfahren".
Ob in einer solchen Konstellation unter Geltung eines "echten" Unternehmensstrafrechts ein wesentlich anderes Ergebnis erzielt würde, ist fraglich. Möglicherweise wäre es sogar schwieriger, die Schizophrenie zu erklären, dass das Unternehmen in seiner Gesamtheit als "Straftäter" bestraft wird, ohne dass die Handelnden strafrechtlich belangt werden oder nur teilweise.
Prof. Dr. Heiko Ahlbrecht ist Partner, Dr. Eren Basar Senior Associate der auf Wirtschaftsstrafrecht spezialisierten Kanzlei Wessing & Partner in Düsseldorf.
* Anm. d. Red: Satz am 2.10.2015, 11:11 Uhr geändert, nachdem die StA Braunschweig am Tag zuvor richtig gestellt hat, dass kein Ermittlungsverfahren gegen den Ex-VW-Vorstandsvorsitzenden Winterkorn eingeleitet worden ist
Konsequenzen der VW-Affäre: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17047 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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