Eine knapp 60-jährige Türkin soll nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Deutschland plötzlich einen Integrationskurs besuchen, um Sprache und Gepflogenheiten der Bundesrepublik zu erlernen – allen Integrationserfolgen ihrer Familie zum Trotz. Die Richter interpretierten dabei das Aufenthaltsrecht etwas eigenwillig, meint Wolfram Steckbeck.
Im Jahr 1981 zog sie zu ihrem türkischen Mann nach Deutschland, sechs Kinder – inzwischen alle Deutsche – haben die Eheleute. Der Mann führt selbstständig einen Lebensmittelladen. Die Frau wollte nur ihre Aufenthaltserlaubnis verlängern, die sie seit Jahrzehnten besitzt, sie wollte keinen Daueraufenthalt oder gar eine Einbürgerung beantragen.
Doch die Ausländerbehörde des Landratsamtes Karlsruhe bezweifelte plötzlich, dass die Türkin integriert sei. Immerhin könne sie sich nicht ausreichend in deutscher Sprache verständigen. Deshalb verpflichtete das Amt die Frau zu einem Integrationskurs gemäß § 43 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
Das Landratsamt bleibt stur
Die Türkin weigerte sich. Sie sei krank und müsse außerdem ihrem Ehemann im Laden helfen, was sie vollauf beschäftige. Zudem habe sie schließlich 30 Jahre lang in Deutschland problemlos gelebt. Sie könne sich sehr wohl auf einfache Art und Weise verständigen, was sie sowohl bei Krankenhausaufenthalten als auch im täglichen Leben gezeigt habe. Ihre Sprachdefizite hingen damit zusammen, dass sie Analphabetin sei. Aufgrund ihres Alters sei sie außerdem nicht mehr in der Lage, an einem solchen Kurs teilzunehmen. Dies "gehe nicht in ihren Kopf".
Die Argumente nutzten nichts: Das Landratsamt hielt die Frau schlicht nicht für eine Analphabetin und auch das Gesundheitsamt gelangte zu der Einschätzung, dass sie körperlich, geistig und seelisch in der Lage sei, den Kurs zu besuchen. Den Nachweis, dass sie sich auf einfache Art und Weise in deutscher Sprache verständigen könne, habe die Antragstellerin nicht erbracht. Es lägen auch keine besonderen familiären Umstände vor, die den Kursbesuch unzumutbar machen würden.
VG sieht nur schlechte Sprachkenntnisse
Der Anwalt wies noch extra darauf hin, dass die gesamte Familie völlig integriert sei, die Mutter alle sechs Kinder zu einer qualifizierten Ausbildung gebracht habe, die Familie Steuern zahle und nie Sozialhilfe erhalten habe. Außerdem gebiete die so genannte Stillhalteklausel zwischen der Europäischen Union und der Türkei, dass die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen nicht weiter beschränken.
Das Verwaltungsgericht (VG) Karlsruhe bügelte alle diese Argumente nieder, wie sich aus dem am Montag veröffentlichten Urteil ergibt. Als Indiz für die mangelnde Integration konnte es allerdings einzig die schlechten Sprachkenntnisse anführen; einen anderen Grund, um die Klägerin zu dem Integrationskurs zu verpflichten, war nicht zu finden (Urt. v. 10.10.2012, Az. 4 K 2777/11).
Wenn ihre erste Aufenthaltserlaubnis abgelaufen und wieder verlängert worden ist, können Ausländer gemäß § 44a Abs. 1, Nr. 2 und 3 AufenthG nur dann noch zum Besuch eines solchen Kurses verpflichtet werden, wenn sie öffentliche Leistungen beziehen oder besonders integrationsbedürftig sind. Nur bei Personen, die erstmals eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, kann ein Integrationskurs bei bloßen mangelnden Sprachkenntnissen angeordnet werden (§ 44 a Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 44 AufenthG).
Das Argument der Stillhalteklausel interessierte die Verwaltungsrichter ebenso wenig wie schon ihre Kollegen beim Landratsamt. Das Gericht ging davon aus, diese Vorschrift sei schon deshalb nicht anwendbar, weil der Ehemann ja nicht mehr Arbeitnehmer, sondern Selbständiger sei. Es verkennt, dass der Mann sein Freizügigkeitsrecht, das er über diese Vorschrift erhalten hat, nicht wieder verlieren kann.
Behörde kann Aufenthaltserlaubnis verweigern
Die Folgen für die Türkin können erheblich sein: Besucht sie den Kurs nicht, kann die Ausländerbehörde die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verweigern (§ 8 Abs. 3 AufenthG), obwohl die Frau einen Anspruch darauf hat.
Eine Niederlassungserlaubnis könnte die Türkin ohnehin nicht bekommen, weil sie dafür besondere Sprachkenntnisse benötigt – dies hatte sie aber auch gar nicht beantragt, ebenso wenig wie die Einbürgerung. Sie wollte nur einfach bei ihrem Mann leben – wie schon seit 30 Jahren – und bei ihren deutschen Kindern.
Einen Antrag auf Zulassung der Berufung hat ist bereits gestellt. Sollte dem nicht stattgegeben werden, wird die Türkin wohl mit 61 Jahren wieder die Schulbank drücken müssen, um in eine Kultur eingeführt zu werden, in der sie seit mehr als 30 Jahren lebt.
Der Autor Wolfram Steckbeck ist Rechtsanwalt in Nürnberg und Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der Arbeitsgemeinschaft Ausländer- und Asylrecht im Deutschen Anwaltverein.
Wolfram Steckbeck, Integrationszwang nach 30 Jahren: . In: Legal Tribune Online, 30.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7679 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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