Das VG Gießen legt sich mit dem BVerfG an. Karlsruhe verlange den Asylgerichten zu viel ab. Und außerdem dürften sich Terroristen ohnehin nicht so einfach auf das Grundgesetz berufen.
Seit gut zwei Jahren muss sich das Verwaltungsgericht (VG) Gießen immer wieder mit dem Fall eines in Deutschland geborenen Türken befassen, der vom Kammergericht (KG) Berlin wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Und offenbar hat es das VG Gießen so langsam satt.
Schon im Juni 2016 wies die Ausländerbehörde den Mann befristet auf zehn Jahre aus und drohte ihm die Abschiebung nach § 59 Asylgesetz (AsylG) samt sofortiger Vollziehung an. Aber er ist immer noch da, auch, weil er vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erfolgreich war. Doch vielen Ausführungen des BVerfG "vermag das VG nicht zu folgen", so der Richter in Gießen (Beschl. v. 07.06.2018, Az. 4 L 6810/17.GI.A). Stattdessen hätte das BVerfG lieber mal prüfen sollen, ob sich ein Terrorist überhaupt auf die deutsche Rechtsordnung und die EMRK berufen könne.
Der übliche Verfahrensgang
Der Mann hatte sich gegen die Ausweisung in der üblichen, zweigleisigen Form gewehrt: Mit einer Klage gegen die Ausweisung sowie einem Eilantrag auf Anordnung von deren aufschiebender Wirkung. Klagen gegen Abschiebungen haben nach § 75 AsylG nämlich grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung.
Der Antrag wurde abgelehnt, seine Beschwerde dagegen zurückgewiesen. Zwischenzeitlich hatte der Mann einen Asylantrag gestellt. Der wurde als offensichtlich unbegründet abgelehnt und festgestellt, dass keine Abschiebungshindernisse vorlägen. Er solle ausreisen, sonst würde er abgeschoben. Die folgende Klage und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wies das VG Gießen ebenso ab bzw. zurück (Beschl. v. 21.09.2017, Az. 8 L 6810/17.GI.A) wie eine Anhörungsrüge (Beschl. v. 14.11.2017). Es folgten eine Verfassungsbeschwerde und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Soweit alles recht normal.
Beim BVerfG war der Mann dann zunächst erfolgreich: Die Karlsruher Richter untersagten der Ausländerbehörde die Abschiebung bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde. Dieser gab Karlsruhe danach teilweise statt und verwies zurück nach Gießen (Beschl. v. 09.01.2018, Az. 2 BvR 2259/17).
BVerfG: VG hat Situation in der Türkei nicht genug aufgeklärt
Das VG Gießen ist jetzt offenbar stinkig. Anders kann man die Formulierungen des Beschlusses (v. 07.06.2018, Az. 4 L 6810/17.GI.A) kaum verstehen, mit dem das VG auf die Entscheidung des BVerfG reagiert – und sich von dieser mehr als deutlich abgrenzt.
Das BVerfG berufe sich in Bezug auf die Lage in der Türkei auf "Hörensagen", "verkenne" den Regelungsgehalt von § 36 Abs. 4 Asylgesetz (AsylG) und "überdehne" die Norm. Außerdem überspanne die Forderung des BVerfG die Anforderungen an das VG in erstinstanzlichen Asylverfahren. Und schließlich verkenne das BVerfG, "dass es sich bei dem Antragsteller um einen rechtskräftig verurteilen Terroristen bzw. Unterstützer einer terroristischen Vereinigung handelt". Nötig wäre eine Aufklärung durch das BVerfG gewesen, ob sich dieser überhaupt auf die Verfassung berufen könne.
Das BVerfG hatte entschieden, dass die Richter am VG Gießen die Situation in der Türkei nicht hinreichend aufgeklärt hätten. Vor der Abschiebung hätten Behörden vor Ort zusichern müssen, dass dem Terroristen weder Folter noch unmenschliche Behandlung drohen, so die Karlsruher Richter. Weil das nicht geschehen sei, liege ein Eingriff in das Grundrecht auf effektiven Rechtschutz nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 Grundgesetz (GG) vor.
VG: BVerfG verlangt zu viel von den Asylgerichten
Die von Karlsruhe geforderte weitere Sachaufklärung hat das VG Gießen daraufhin unternommen – und blieb bei seiner Einschätzung: "Auch wenn das BVerfG die Beschlüsse der 8. Kammer aufgehoben bzw. für gegenstandslos erklärt hat, folgt hieraus nicht, dass die nunmehr zuständige 4. Kammer die von der 8. Kammer gegebenen Begründungen und Erwägungen nicht in das erneut zu entscheidende Verfahren einbeziehen und ihnen folgen kann", so das VG Gießen.
Für das erstinstanzliche Gericht könnte damit eigentlich alles geklärt sein – ist es aber nicht. Vielmehr, so schreibt der Richter in seinem Beschluss, "nutzt das Gericht die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass es den Ausführungen und Vorgaben des Beschlusses des BVerfG (…) nicht in vollem Umfang Folge zu leisten vermag". Der Grund: "Das BVerfG verkennt im Rahmen seiner Ausführungen den Regelungsgehalt von § 36 Abs. 4 AsylG." Nach dieser Vorschrift darf die Abschiebung nur ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen.
Das VG stimmt noch zu, dass Behörden und Gerichte über die Lage im Zielland informieren müssten. Doch von der Notwendigkeit auszugehen, Zusicherungen einholen zu müssen, überschreite den Regelungsgehalt der Norm – und "überspannt die Anforderungen an das Verwaltungsgericht in erstinstanzlichen Asylverfahren", so das VG Gießen. Würde man sämtliche vom BVerfG geforderten Maßnahmen einleiten und Informationen einholen, würde das nicht nur auf Unverständnis in der Türkei stoßen, sondern die bilateralen Beziehungen erheblich belasten. Aus Sicht des türkischen Staates würde das, so der Richter, bedeuten, dass man ihm kein Vertrauen entgegenbringe – und das, obwohl das Land Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sei.
Diese Kritik kann Daniel Thym nachvollziehen. "Hier wird ein Punkt angesprochen, den auch Karlsruhe nicht abschließend durchdacht haben dürfte", sagt der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz. Die Frage sei, "ob für Rückführungen innerhalb des Geltungsbereichs der EMRK dieselben Anforderungen an Zusicherungen zu stellen sind wie bei Rückführungen an Drittstaaten".
Grundrechte für Terroristen "verwirkt"?
Nach Ansicht des Richters am VG Gießen verkennt das BVerfG zudem, dass es sich bei dem Mann um einen verurteilten Terroristen bzw. Unterstützer einer terroristischen Vereinigung handelt. Und der begebe sich als Kämpfer gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung "außerhalb der Rechtsordnung des GG der Bundesrepublik Deutschland und auch außerhalb des Schutzbereichs der EMRK". Wer sich derart verhalte, "stellt sich mit seiner Handlungsweise so weit außerhalb der bundesdeutschen und westlichen Wertordnung, dass es ihm verwehrt ist, wenn es darum geht, von ihm selbst Gefahren abzuwenden, sich gerade auf diese Ordnungen berufen zu können." Die Verwirkung von Grundrechten sei zwar, so der hessische Asylrichter, nicht ohne weiteres anzunehmen, aber doch denkbar.
Verfassungsrechtler Thym winkt ab: "Diese Ausführungen des VG Gießen stehen im Konflikt mit der langjährigen EGMR-Judikatur, auf die Karlsruhe verweist; diese mag rechtspolitisch umstritten sein, ist aber dennoch in der Rechtsprechung vergleichbar fest verankert". Auch Terroristen hätten einen Anspruch auf Schutz durch den Rechtsstaat. "Das mag dem zuständigen Einzelrichter nicht gefallen, aber es ist ständige Rechtsprechung."
"Am deutschen Wesen…"
Dem Richter in Gießen ist das sicherlich klar. Für richtig hält er es offenbar nicht. Für ihn verstoßen Terroristen gegen Treu und Glauben, wenn sie sich auf die deutsche Rechtsordnung und die EMRK berufen, sobald sie für sich selbst Gefahren sehen. Diese Wertordnung erkenne er ja auch nicht an, wenn es um andere Menschen gehe. Selbst wenn den Terroristen also aufgrund ihrer Taten in ihren Heimatländern Gefahren drohten, so sei diesen nicht mit den Rechtschutzgarantien der zuvor bekämpften freiheitlich demokratischen Grundordnung zu begegnen. Geringfügige Gefahren im Heimatland könnten daher einer Rückführung nicht entgegenstehen. Eine Überprüfung sei allenfalls bei schwerwiegenden Rechtsverletzungen indiziert.
"Der Begründung des BVerfG scheint im Ergebnis die vom erkennenden Gericht nicht geteilte und auch in anderen Zusammenhängen nicht gebilligte Phrase 'am deutschen Wesen soll die Welt genesen' zugrunde zu liegen, was aber bei aktiven terroristischen Verhaltensweisen verfehlt ist", führt der Richter am VG Gießen aus. Denn das würde bedeuten, Terroristen weltweit in Deutschland oder der EU zu sammeln mit Folgen, die auf der Hand lägen. Das "Kampfpotential gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung und andere europäische Wertvorstellungen" wäre dann in dem Gebiet geballt, in der die zu bekämpfende Werteordnung Geltung beansprucht. Das sei ja "eine 'schöne' Zukunftsperspektive gedeihlichen Zusammenlebens." Seine Entscheidung ist unanfechtbar.
Öffentlich kommentieren wollte der entscheidende Einzelrichter diese auf Nachfrage von LTO nicht weiter - aus guten Gründen, denn noch ist ja die Asylklage des Türken anhängig. Eine öffentliche Stellungnahme könnte ein Ablehnungsgesuch von Beteiligten nach sich ziehen.
Tanja Podolski, Schelte vom Asylrichter: . In: Legal Tribune Online, 05.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29585 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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