Vattenfall zieht wegen der Energiewende vor ein internationales Schiedsgericht. Sollte der Stromkonzern den Prozess gewinnen, kann er mit milliardenschweren Entschädigungen rechnen – nur ein Grund, warum nicht der Weg der Verfassungsbeschwerde gewählt wurde. Wie ein vormals zum Schutz deutscher Investitionen gedachtes Verfahren nun auf Deutschland zurückfällt, erklärt Hans-Georg Dederer.
Über den deutschen Atomausstieg wird demnächst in den USA entschieden: Am 31. Mai 2012 hat der Stromkonzern Vattenfall Klage gegen Deutschland beim Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (International Centre for Settlement of Investment Disputes, kurz: ICSID) eingereicht. Das ICSID hat seinen Sitz bei der Weltbank in Washington, D.C.; es ist selbst weder ein Gericht noch ein Schiedsgericht. Vielmehr handelt es sich um eine Einrichtung, die Streitparteien einen organisatorisch-institutionellen und verfahrensrechtlichen Rahmen für Schiedsverfahren auf dem Gebiet des internationalen Investitionsschutzes bietet.
Ein solches Verfahren kommt nur bei Streitigkeiten zwischen einem ausländischen Investor und seinem Gaststaat in Betracht. Die schwedische Vattenfall AB ist ein solcher ausländischer Investor, der seine Rechte gegen den Gaststaat Deutschland nun vor einem ICSID-Schiedsgericht durchsetzen will. Dagegen ist deutschen Atomkraftwerksbetreibern wie E.ON und EnBW der Gang nach Washington versperrt: Im Verhältnis zu Deutschland sind diese Unternehmen keine ausländischen Investoren.
Das deutsche Recht kennt keine De-facto-Enteignungen
Ihnen bleibt gegen den Atomausstieg folglich nur die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Dass Vattenfall diesen Rechtsbehelf übergehen konnte, hat für den Stromkonzern einige bedeutende Vorteile: Zunächst dürfen die Streitparteien bei einem internationalen Schiedsverfahren nach ICSID-Regeln die Schiedsrichter selbst auswählen, was für den Ausgang des Verfahrens ganz entscheidend sein kann. Bei der Auswahl können die Streitparteien auf das in Washington geführte Schiedsrichterverzeichnis zurückgreifen.
Zudem können die Streitparteien die Dauer des gesamten Schiedsverfahrens gezielt beeinflussen. Vor dem BVerfG ist das für die Beschwerdeführer dagegen praktisch unmöglich. Anders als ein ICSID-Schiedsgericht können die Karlsruher Richter Deutschland auch nicht zu milliardenschweren Entschädigungszahlungen verpflichten. Sie können nur feststellen, dass der Atomausstieg gegen die Verfassung verstößt. Ein Schiedsspruch aus Washington eröffnet Vattenfall außerdem die Vollstreckung in allen 158 ICSID-Vertragsstaaten. Dabei ist der ICSID-Schiedsspruch einer Überprüfung durch nationale Stellen entzogen.
Hinzu kommt, dass die deutsche Eigentumsdogmatik eigentümlich starr ist. Die Figur der entschädigungspflichtigen De-facto-Enteignung ist ihr unbekannt. Um eine solche Enteignung könnte es sich beim Atomausstieg aber gerade handeln. Der Atomausstieg verkürzt nämlich die Betriebslaufzeiten der deutschen Atomkraftwerke. Dadurch werden die Investitionen Vattenfalls in die Atomkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel neutralisiert. Beide mussten bereits im vergangenen Jahr endgültig abgeschaltet werden. Im internationalen Investitionsrecht gehört die Entschädigungspflicht für De-facto-Enteignungen dagegen zum klassischen Schutzstandard. Das gilt auch unter dem Energiecharta-Vertrag, auf den sich Vattenfall wohl stützt.
Vattenfall könnte auf enttäuschtes Vertrauen pochen
Es liegt nahe, dass Vattenfall außerdem einen Verstoß gegen das Gebot "gerechter und billiger Behandlung" ("fair and equitable treatment") rügen wird. Dieser Investitionsschutzstandard ist gleichfalls im Energiecharta-Vertrag verankert. In Investitions-Schiedsverfahren erfreut sich die Klausel bei den klagenden Investoren großer Beliebtheit – nicht trotz, sondern wegen seiner Weite und Unbestimmtheit. So könnte Vattenfall geltend machen, die nachträgliche Begrenzung der Laufzeiten habe Vattenfalls berechtigtes Vertrauen in die Verlässlichkeit des deutschen Rechtsrahmens enttäuscht und sei deshalb "ungerecht und unbillig".
In dem von Vattenfall eingeleiteten Schiedsverfahren verwirklicht sich für Deutschland gleichsam ein Bumerangeffekt. 1959 initiierte die Bundesrepublik den völkervertraglichen Investitionsschutz. Ihr ging es dabei ursprünglich um den Schutz der Investitionen deutscher Unternehmen im Ausland, zumal in Entwicklungs- und Schwellenländern. Zahlreiche andere Staaten folgten dem deutschen Beispiel.
In seinen Investitionsschutzverträgen mit anderen Staaten musste Deutschland freilich seinerseits versprechen, die vereinbarten Schutzstandards auf ausländische Investitionen in Deutschland anzuwenden. Wohl anders als jemals erwartet und gedacht, findet sich jetzt plötzlich die Bundesrepublik auf der Anklagebank - in einer Liga mit Staaten wie Pakistan, Turkmenistan, Peru, Äquatorialguinea oder Santa Lucia.
Dr. Hans-Georg Dederer ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau. Seine Lehrtätigkeit erstreckt sich in umfassender Weise auch auf das Recht der Auslandsinvestitionen.
Vattenfall klagt gegen Atomausstieg: . In: Legal Tribune Online, 12.06.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6368 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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