Der UN-Migrationspakt wird von einigen verteufelt. Dabei ist er weder rechtsverbindlich, noch erwächst aus ihm neues Völkergewohnheitsrecht. Diverse missverständliche Formulierungen bieten jedoch unnötig Angriffsfläche, meint Daniel Thym.
Die öffentliche Debatte über den UN-Migrationspakt ist in vollem Gange. Dies liegt auch daran, dass sich das diplomatische Dokument für eine Skandalisierung eignet. Mit über 15.000 Wörtern auf 30 eng bedruckten Seiten enthält der Pakt zahlreiche Passagen, die man öffentlichkeitswirksam ausschlachten kann. Eine Angriffsfläche bietet zum einen die diplomatische Sprache, die inhaltliche Restriktionen hinter positiven Begriffen versteckt. Zum anderen erleichtern pseudojuristische Begriffe, eine Rechtsbindung durch die Hintertüre zu behaupten.
Exemplarisch nutzt etwa die Petition "Migrationspakt stoppen" die Unklarheiten, um gegen den Pakt zu mobilisieren. Dieser fördere angeblich einen "Bevölkerungsaustausch". Auch die Kritik der AfD geht in diese Richtung: Der Pakt beinhalte ein "verstecktes Umsiedlungsprogramm für Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge“ und eine "Aufnahmepflicht" für alle Opfer des Klimawandels.
Auch wenn die Formel vom "Bevölkerungsaustausch" im Pakt nicht vor kommt und auch in einer anderen UN-Untersuchung, auf die die Kritiker verweisen, nur als statistische Rechengröße im Kontext des demographischen Wandels genannt wird: Das Beispiel zeigt, dass die UN vorsichtiger und präziser hätte formulieren sollen. Es ist zu einseitig, im Titel generell von einem Pakt "für" Migration zu sprechen und diese pauschal als "Quelle des Wohlstands" zu preisen.
Balance zwischen legaler Migration und "verhinderter" irregulärer Einreise
Tatsächlich sucht der Pakt eine Balance zwischen einer "verbesserten" legalen Migration und einer "verhinderten" irregulären Einreise. Das passt perfekt zur deutschen Regierungspolitik, die aktuell einerseits mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die legale Migration ausbauen möchte und daneben darauf hinwirkt, dass die Heimatstaaten abgelehnte Asylbewerber zurücknehmen und die Schleuserkriminalität bekämpft wird.
Es geht also nicht um eine einseitige Migrationsförderung, sondern ebenso um die egoistischen Interessen der Europäer. Die Staaten haben hart verhandelt, das Ergebnis in bester diplomatischer Tradition sodann freilich in schönen Worten verpackt. Dem Vernehmen nach war es die Bundesregierung, die durchsetzte, dass die Endfassung eine "verhinderte" irreguläre Migration anstrebt.
Ein Beispiel, wie schwer es sein kann, einzelne Passagen richtig einzuordnen, zeigt das Thema "Klimawandel": Wenn die AfD behauptet, der Pakt enthalte eine "Aufnahmepflicht für alle, die behaupten, Opfer des ‚Klimawandels‘ zu sein“, bezieht sie sich auf Nummer 21, Buchstabe h des Pakts. Dort versprechen sich die Staaten, vermehrt an "Lösungen" zu arbeiten und ganz konkret etwa "Optionen für eine geplante Neuansiedlung und Visumserteilung" zu konzipieren.
Juristisch geschulte Leser werden sofort merken, dass es sich hier allenfalls um eine zwischenstaatliche Bemühenspflicht handelt, die kein Ergebnis vorgibt. Deutschland könnte also einige Bewohner von pazifischen Inselstaaten aufnehmen, die im Meer versinken. In welchem Umfang dies geschieht, wäre freilich erst zu vereinbaren. Von einer subjektiven Aufnahmepflicht für alle selbst erklärten Opfer des Klimawandels, die die AfD sprachlich unterstellt, ist der Text ebenso weit entfernt wie von einem geplanten "Bevölkerungsaustausch".
Klimawandel weiter kein Schutzgrund
Im Übrigen wird allein durch die Verortung des Klimawandel-Aspektes im Migrationspakt ein restriktives Signal aussendet, das vielen Flüchtlingsorganisationen nicht gefallen wird. Denn diese versuchen seit einiger Zeit sprachlich und juristisch die Kategorie eines "Klimaflüchtlings" zu etablieren. 2016 erwog ein neuseeländisches Gericht, die Genfer Flüchtlingskonvention auf klimabedingte Migrationsentscheidungen zu erstrecken. Wäre das so, könnten die Asylanträge afrikanischer Migranten künftig sehr viel häufiger Erfolg haben. Aktuell gilt der Klimawandel in Europa nicht als Schutzgrund.
Der UN-Migrationspakt stützt nun diese europäische Sichtweise. Die Folgen des Klimawandels sind nicht im UN-Flüchtlingspakt geregelt, der parallel verhandelt wurde. Stattdessen soll das reguläre Migrationsrecht angewandt werden – und nach diesem haben die Staaten sehr viel mehr Spielräume als nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Ähnliches gilt für viele andere konkrete Themen. Die schönen Formulierungen hinterlassen bei der unbefangenen Lektüre einen falschen Eindruck, denn sie erscheinen großzügiger als sie sind.
Im UN-Dokument heißt es ausdrücklich gleich zu Beginn, dass der Pakt nicht rechtsverbindlich sei und im Übrigen die Souveränität der Staaten unberührt lasse (Nr. 4 und Nr. 15 Buchst. c). Hieran ändern auch die zahlreichen Verweise auf völkerrechtliche Verträge nichts, weil diese größtenteils von den europäischen Staaten ratifiziert wurden oder jedenfalls in ihrem Regelungsgehalt nicht über die Europäische Menschenrechtskonvention oder die EU-Grundrechtecharta hinausgehen. Rechtlich ist der Pakt langweilig.
Missverständliche Wortwahl ohne Rechtsverbindlichkeit
Dennoch ist die Sprache missverständlich. So ist die deutsche Bezeichnung als "Pakt" ein Synonym für eine Vereinbarung, das auch für die beiden verbindlichen UN-Menschenrechtspakte aus dem Jahr 1966 verwandt wird, obwohl das Englische die "compacts" über Migration und Flucht von den "covenants" zu den Menschenrechten unterscheidet.
Auch klingen die "Verpflichtungen" (Englisch: commitments), die die Staaten im Migrationspakt aussprechen, bindend. Die UN wären gut beraten gewesen, den politischen Charakter zu betonen und wie im parallel verhandelten Flüchtlingspakt von "Aktionsplänen" zu sprechen. Die halbjuristische Sprachwahl des Migrationspakts macht es Kritikern leicht, diesem eine indirekte Verbindlichkeit zu unterstellen.
In einem Gutachten für das österreichische Innenministerium führt der Salzburger Professor Michael Geistlinger aus, dass auch unverbindliche UN-Dokumente ein Indiz für ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht sein können und bisweilen auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zitiert werden. Es ist dies die Grundlage für die auch in Deutschland zuletzt immer häufiger geäußerte These, dass der Pakt doch Rechtswirkungen entfalten könnte. Juristisch sind hierbei zwei Fragen zu unterscheiden.
Kein neues Völkergewohnheitsrecht
Erstens stimmt es, dass das Völkerrecht neben Verträgen auch das ungeschriebene Gewohnheitsrecht kennt, das früher eine große Rolle spielte, heute jedoch nur sehr selten praktisch relevant wird. Mir sind kaum Urteile deutscher oder europäischer Gerichte zum Migrationsrecht bekannt, in denen das Völkergewohnheitsrecht eine tragende Rolle spielte. Wichtigste Ausnahme sind die Regeln zum diplomatischen Schutz. Aus der Perspektive der migrationsrechtlichen Praxis dürfte die Furcht vor dem Völkergewohnheitsrecht also ins Leere laufen.
Unabhängig hiervon dürften im Fall des UN-Migrationspakts die beiden Entstehungsvoraussetzungen von Völkergewohnheitsrecht nicht gegeben sein. So fehlt spätestens nach dem Austritt etwa von den USA und Australien ein weitgehender Staatenkonsens. Insoweit entzieht die Kritik dem Argument einer mittelbaren Rechtsverbindlichkeit die Grundlage. Wenn immer mehr Staaten austreten, fehlt der internationale Konsens.
Hinzu kommt, dass ein Gewohnheitsrecht nicht allein aus einem Konsens folgt. Vielmehr verlangt der Internationale Gerichtshof, dass die Rechtsüberzeugung durch eine wiederkehrende Staatenpraxis getragen sein muss. Schöne Floskeln alleine reichen nicht. Weder die Rhetorik noch die Praxis lässt derzeit erkennen, dass ganz konkret etwa eine Aufnahmepflicht für die Opfer des Klimawandels entstehen könnte. Der abstrakte Verweis auf das Völkergewohnheitsrecht ändert nichts daran, dass dem Pakt die Substanz fehlt.
Vorbild für den EGMR?
Etwas komplexer verhält es sich mit dem zweiten rechtlichen Argument der Kritiker, dass nämlich der UN-Migrationspakt mittelbar die Auslegung der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) beeinflussen könnte. Dies ist an sich durchaus denkbar, da der EGMR seit einigen Jahren die Konvention dann dynamisch auslegt und die Menschenrechte fortentwickelt, wenn ein internationaler Konsens besteht.
Allerdings dürfte auch dieses Argument praktisch leerlaufen. Die europäischen Diplomaten achteten nämlich sorgsam darauf, dass die Formulierungen die bestehenden Politikansätze nicht untergraben. Ein Beispiel erwähnte ich bereits kürzlich in einem Gastbeitrag für die FAZ : So erlaubt der UN-Migrationspakt die umstrittenen Sprachanforderungen für den Ehegattennachzug zu anderen Ausländern als Flüchtlingen ausdrücklich auch "vor der Abreise". Sonstige Anforderungen an den Familiennachzug sollen zwar "überprüft" werden, ohne ein Ergebnis vorzugeben (Nr. 21 Buchst. i). Daraus können Gerichte keinen Nektar saugen, um die Menschenrechte expansiv fortzuentwickeln.
Allenfalls an zwei Stellen geht der Pakt punktuell über die deutsche und europäische Menschenrechtsjudikatur hinaus, wenn eine Freiheitsbeschränkung "bei der Einreise" nur aufgrund einer Einzelfallprüfung als Ultima Ratio erfolgen darf (Nr. 29) und zudem eine Ungleichbehandlung beim Sozialleistungszugang immer eine Verhältnismäßigkeitskontrolle fordert (Nr. 31). Hier hätten die europäischen Regierungen besser aufpassen sollen.
Gleichwohl wird das für sich genommen die EGMR-Rechtsprechung nicht ändern, weil deren dynamische Auslegung sich vorrangig an rechtsverbindlichen Instrumenten orientiert. Dies zeigen die Urteile zu den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber (Rn. 251) ebenso wie zur Berücksichtigung des Kindeswohls beim Familiengrundrecht (Rn. 135). Bloße politische Absichtserklärungen dürften für sich genommen nicht ausreichen.
Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA).
UN-Migrationspakt: . In: Legal Tribune Online, 21.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32231 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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