Vergangene Woche stürmten Spezialeinheiten der türkischen Polizei das größte Gerichtsgebäude in Istanbul und verhafteten demonstrierende Anwälte. Bereits Ende 2011 war es zu Massenfestnahmen von 46 überwiegend kurdischen Anwälten gekommen. Der DAV sieht damit eine neue Eskalationsstufe erreicht, die Berliner RAK will Kollegen zur Unterstützung nach Istanbul schicken.
Plötzlich geht es los. Schreie, Pfiffe, Buhrufe, als sich die Reihe der Polizisten in Bewegung setzt, die Visiere an ihren Helmen herunterklappt und in die Eingangshalle flutet. Die Menge teilt sich, weicht zurück. Viele strecken ihre Arme in die Luft. Keine Fäuste, sondern Smartphones mit Kamera. Sie wollen festhalten, was sich da vor ihren Augen abspielt und was sie nicht glauben wollen. Wie die Polizei den ersten ihrer Kollegen in seiner Robe abführt. Ein anderer Anwalt versucht sich noch schützend vor ihn zu stellen und ruft in die Kamera "Burada hukuk yok" – "Hier gibt es kein Recht".
Spezialeinheiten der türkischen Polizei stürmten am Dienstagmittag das Gerichtsgebäude im Istanbuler Stadtteil Caglayan. Dort hatten sich zum dritten Mal in zwei Wochen ungefähr hundert Anwältinnen und Anwälte versammelt, um sich mit den Demonstranten im nur fünf Kilometer entfernten Gezi-Park in Taksim zu solidarisieren. Sie protestierten gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei und wollten die Staatsanwaltschaft zu kritischen Ermittlungen bewegen. "Taksim ist überall", riefen sie und plötzlich wurde das wahr.
Im größten Gericht der Stadt kam es zu gespenstischen Szenen: Nicht nur demonstrierende Anwälte wurden festgenommen, sondern auch ihre Verteidiger. Insgesamt sollen nach unterschiedlichen Berichten zwischen 30 und 80 Anwälte verhaftet worden sein. Einige von ihnen wurden gefesselt und gewaltsam abgeführt. Unklar bleibt, ob sie gezielt aus der Menge gegriffen oder völlig willkürlich mitgenommen wurden. Erst gegen Abend wurden alle Festgenommenen wieder freigelassen, nachdem zuvor bis zu hundert nicht verhaftete Anwälte dies vor den Polizeistationen gefordert hatten.
Präsident der Istanbuler Rechtsanwaltskammer vor Gericht
Am nächsten Tag zogen laut der türkischen Tageszeitung Hürriyet mehr als 2.000 Menschen wieder vor das Gericht, um gegen das Vorgehen der Polizei zu demonstrieren. Mittlerweile wirft der Oberstaatsanwalt in einer Stellungnahme den Festgenommenen vor, die öffentliche Ordnung gestört zu haben. Die Demonstrierenden hätten sich den Aufforderungen der Polizei widersetzt, auch seien mehrere Polizisten verletzt worden.
Der Präsident der Istanbuler Rechtsanwaltskammer, Professor Ümit Kocasakal, machte dagegen den Oberstaatsanwalt für den Polizeieinsatz verantwortlich und forderte nach Augenzeugenberichten seinen Rücktritt. Die Kammer bereite derzeit rechtliche Schritte vor. Kocasakal sieht den "Polizeiterror in enger Verbindung mit den politischen Provokationen der Regierung". Seit Mai muss sich der Kammerpräsident mit neun Mitgliedern seines Vorstandes selbst vor Gericht verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, ein faires Gerichtsverfahren beeinflusst zu haben, nachdem sie sich für die Rechte der dort tätigen Verteidiger eingesetzt hatten.
Die türkische Rechtsanwaltskammer schreibt in ihrer Pressemitteilung zu Dienstag: "Auf dem Boden gekrochen sind nicht nur unsere Kollegen, sondern auch die Gerechtigkeit."
Die wachsende Unzufriedenheit mit der Aufteilung des öffentlichen Raums schürte in den vergangenen Wochen die Proteste dieser Tage. Bei den Demonstrationen nach dem Alkoholverbot in Istanbul und der Schließung des traditionsreichen Emek-Kinos in Taksim, aber auch der autoritären Gentrifizierung weiter Teile der zentralen historischen Viertel und den Plänen für den Gezi-Park trifft die staatliche Gewalt nicht nur Demonstranten und Journalisten, sondern auch deren Verteidiger.
Besorgnis bei Anwaltskammern auf der ganzen Welt
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) sieht damit eine neue Eskalationsstufe erreicht.
Mit den jüngsten Ereignissen in Istanbul verschärft sich der Ton gegen die Anwaltschaft in der Türkei mit ihren über 70.000 Mitgliedern. Bereits Ende 2011 kam es zu Massenfestnahmen von 46 überwiegend kurdischen Anwälten. Die Anklage stützt sich auf ihre angebliche Mitgliedschaft in der Untergrundorganisation "Union der Gemeinschaften Kurdistans" (KCK).
Dass Verteidiger reflexartig mit ihren Mandanten gleichgesetzt werden, sei leider nichts Neues, erklärt der Vizepräsident und Menschenrechtsbeauftragter der Rechtsanwaltskammer (RAK) Berlin, Bernd Häusler. Die Kammer beobachte die Situation der Anwälte in der Türkei mit zunehmender Besorgnis. In einem Brief an den türkischen Botschafter in Berlin forderte sie vor dem Wochenende Zusicherungen dafür, dass zwei Kollegen der Berliner Kammer als Unterstützung nach Istanbul gesandt werden können. In der Vergangenheit sei es zu Ausweisungen am Flughafen gekommen.
Allerdings gibt Häusler mit Blick auf die jüngsten Ereignisse in Caglayan zu bedenken, dass politische Proteste auch in deutschen Gerichten keineswegs geduldet würden. Dies rechtfertige aber nicht das heftige Eingreifen der Polizei in Istanbul.
Anfang Januar kam es zu einer weiteren landesweiten Verhaftungswelle im Zusammenhang mit dem KCK-Verfahren. Dieses Mal wurden zwölf Anwälte verhaftet, ihre Büros durchsucht und Akten beschlagnahmt, wie der DAV berichtet.
Die Internationale Anwaltskammer sieht in dem jüngsten Vorgehen der Polizei in Caglayan eine schwerwiegende Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die auch die Türkei unterzeichnet hat. Wie ernst es die Regierung mit solchen völkerrechtlichen Garantien meint, wird sich zeigen. Seit Sonntagabend jagt die Polizei jedenfalls wieder die Menschen vom Taksim Platz durch die Straßen Istanbuls.
Markus Sehl, Türkei verhaftet Anwälte: . In: Legal Tribune Online, 17.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8942 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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