Ex-post oder doch nicht?: Streit um den Ent­wurf zur Triage

von Maximilian Amos

10.05.2022

Die Regierung nimmt sich der vom BVerfG geforderten Regelung der Triage an. Von einem Entwurf aus dem BMG distanziert sich Minister Lauterbach nach heftiger Kritik jedoch nun wieder. Was es damit auf sich hat, erläutert Maximilian Amos.

Es ist viel passiert seit dem 16. Dezember 2021, als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seine Entscheidung zur Triage traf Corona hat in all seinen Varianten die neue Bundesregierung beschäftigt, in Europa wird zum ersten Mal seit über 70 Jahren wieder Krieg geführt. Doch wenn die Karlsruher Richter in mit eindringlichen Worten "unverzüglich" zum Handeln auffordern, dann ist das ernst zu nehmen. Und genau das hatten sie getan in ihrer Entscheidung zur sogenannten Triage. Also bei der Extrementscheidung in Notsituation, wenn nicht alle in Lebensgefahr schwebenden Menschen gerettet werden können. Der Gesetzgeber müsse schnell geeignete Vorkehrungen treffen, hieß es damals. Getan hatte sich in den fast fünf Monaten seitdem aber nichts.

Seit Freitag vergangener Woche ist nun jedoch einiges an Bewegung in die politische Debatte um die Regelung der Triage gekommen. Am Freitag meldeten mehrere Medien, darunter Tagesspiegel und Zeit Online, es gäbe nun einen ersten Entwurfaus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) vor. Der 24-seitige Referentenentwurf liegt der LTO vor. Was lange währt, wird endlich gut, konnte man also meinen. Doch die Reaktionen auf den Entwurf lasen sich vernichtend. Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag sprach in einer Mitteilung von einer "herben Enttäuschung" und zitierte ihren gesundheitspolitischen Sprecher Tino Sorge sowie den Berichterstatter für Menschen mit Behinderungen, Hubert Hüppe mit den Worten: "Der vorgelegte Gesetzentwurf dokumentiert den Unwillen, den Auftrag der Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen. "

Nun ist scharfe Kritik aus der Opposition nichts Neues, wenn die Regierung sich einer hoch brisanten Materie annimmt. Doch auch vom Koalitionspartner Bündnis 90/Grüne kam Kritik: "Mit diesem Gesetz käme der Staat seiner besonderen Schutzpflicht nicht nach", sagte Corinna Rüffer, die bei den Grünen für Behindertenpolitik zuständig ist. "Behinderte Menschen würden nach wie vor Gefahr laufen, aufgrund ihrer Behinderung von einer intensivmedizinischen Behandlung ausgeschlossen zu werden", sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).

Am Montag dann erklärte das BMG auf Anfrage von LTO, eine gesetzliche Lösung der Triage-Problematik werde derzeit beraten, weitere Informationen könnten nicht mitgeteilt werden. Den Entwurf wollte man nicht kommentieren oder gar herausgeben.

Referentenentwurf eng an Vorgaben des BVerfG orientiert

Die Triage landete im Zuge der Corona-Pandemie und der befürchteten Auslastung der Intensivstationen vor dem BVerfG. Allgemein bezeichnet sie das moralische Dilemma, in einer Situation, in der mehrere Menschen in Lebensgefahr sind, nicht retten zu können. Es muss somit entschieden werden, wer gerettet werden soll und wer sterben muss. Oder konkret: Welcher schwerkranke Covid-Patient eine Beatmungsmaschine erhält oder nicht. Genau darum ging es vor dem BVerfG, das über die Verfassungsbeschwerden von Menschen mit Behinderungen zu entscheiden hatte. Diese fürchteten, wenn in der die Corona-Pandemie die Intensivstationen in Krankenhäusern an die Belastungsgrenze bringe, könnten sie aufgrund einer schlechteren Erfolgsaussicht bei der Zuweisung von lebensrettenden Behandlungsplätzen benachteiligt werden und verlangten vom Gesetzgeber, Regelungen zu treffen, die sie vor einer solchen Diskriminierung schützten. Die Karlsruher Richter entschieden, dass das Diskriminierungsverbot wegen einer Behinderung aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG) den Gesetzgeber verpflichte, Regelungen zu treffen, die verhindern, dass Menschen in einer Triage-Situation aufgrund einer Behinderung von vorneherein schlechtere Chancen bei der Vergabe von nicht ausreichenden Behandlungsplätzen haben. Schließlich forderte man vom Gesetzgeber, "unverzüglich" tätig zu werden.

Am Freitag dann sah es so aus, als habe die Bundesregierung endlich geliefert. Nach dem am Freitag kursierenden Entwurf soll zunächst einmal die Benachteiligung von Menschen aufgrund von Behinderungen, aber auch anderen typischen Diskriminierungsmerkmalen ausgeschlossen werden. Explizit als Verteilungskriterien ausgeschlossen werden daher neben einer Behinderung oder Gebrechlichkeit auch Alter, ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Geschlecht oder sexuelle Orientierung. Stattdessen darf demnach nur aufgrund der "aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten" entschieden werden. Weiter heißt es im Entwurf, Komorbiditäten dürften "nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern."

Dies ist zunächst einmal praktisch eine Wiedergabe der Entscheidung des BVerfG und damit auf der Linie des Gerichts, das eine Priorisierung nach der klinischen Erfolgsaussicht im Sinne des Überlebens der aktuellen Erkrankung ausdrücklich zuließ. Verfassungsrechtlich problematisch wäre es dagegen, im weiteren Sinne einer Erfolgsaussicht auf die zu erwartende Lebensdauer oder gar die Lebensqualität abzustellen. Dies würde einen Verstoß gegen das Verbot der Abwägung von Leben darstellen, da hiermit die Aussage einherginge, dass ein längeres Leben wertvoller, ein junger Mensch damit der Rettung würdiger sei als ein alter. Soweit die verfassungsrechtliche Logik, welcher der Entwurf folgt.

"Der Entwurf orientiert sich an der Entscheidung des BVerfG, indem er als materielles Kriterium an die 'aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit' anknüpft" meint demnach auch Prof. Dr. Scarlett Jansen, Strafrechtlerin von der Uni Trier, die zur Triage publiziert hat, gegenüber LTO. Positiv hervorzuheben sei darüber hinaus, dass der Entwurf das Diskriminierungsverbot wegen Behinderung auch auf andere Kriterien erstrecke.

Umstrittene Ex-post-Triage

Doch die Kritik am Entwurf entzündet sich an anderer Stelle. Denn er belässt es nicht bei dieser Regelung, sondern fügt ihr einen hoch umstrittenen Punkt hinzu, die sogenannte Ex-post-Triage. Dies meint den Abbruch einer bereits begonnenen Therapie zugunsten eines anderen, noch nicht behandelten Patienten. Im Zweifel würde danach also ein Patient mit schlechter Prognose vom Beatmungsgerät genommen, um einen anderen Patienten, der mutmaßlich eine höhere Überlebenschance hat, beatmen zu können. Bei der Ex-ante-Triage, gewissermaßen dem Gegenstück zur Ex-post-Triage, wird im Unterschied hierzu eine Behandlungsmöglichkeit zwischen zwei Patienten, die beide noch keine Behandlung erhalten, aber gleichermaßen benötigen, zugeteilt.

Die herrschende Meinung der deutschen Strafrechtswissenschaft sieht den Arzt, der in diesem Szenario die Entscheidung für einen Patienten – und damit notwendig gegen einen anderen – als aufgrund einer Pflichtenkollision gerechtfertigt. Dies folgt dem Grundsatz, dass niemand zu etwas Unmöglichem, in dieser Lage die Rettung beider Patienten, verpflichtet werden kann. Die Beendigung der Behandlung im Sinne der Ex-post-Triage wird dagegen mehrheitlich als strafbarer Totschlag verstanden. Auch der Nationale Ethikrat sowie die Bundesregierung im Verfahren vor dem BVerfG haben sich bislang auf diesen Standpunkt gestellt. Eben dieses Verfahren sollte aber nach dem Entwurf vom Freitag zulässig sein, wenn drei Mediziner zustimmen.

Die Strafrechtlerin Jansen teilt die Kritik am Entwurf und hält eine solche Regelung für "mehr als bedenklich". "Im Entwurf wird dies u.a. damit begründet, dass das BVerfG in seinem Beschluss keine zeitliche Unterscheidung vorgenommen habe. Das BVerfG hat sich jedoch zur Ex-Post-Triage leider überhaupt nicht geäußert. Sein Schweigen kann keinesfalls als Billigung der Ex-Post-Triage gewertet werden." Der Entwurf verkenne auch, "dass die Ex-Post-Triage eine mittelbare Diskriminierung durch die Entscheidung anhand der kurzfristigen Erfolgsaussicht selbst dann ermöglicht, wenn der Patient mit Behinderung bereits behandelt wird. Benachteiligungen werden im Ergebnis in noch größerem Ausmaß ermöglicht. Zudem übersieht die Begründung, dass gerade eine Entscheidung anhand der zeitlichen Priorität Diskriminierungen vorbeugt."

Auch der Rechtsanwalt Oliver Tolmein, der im Verfahren vor dem BVerfG mehrere Beschwerdeführer vertrat, zeigt sich gegenüber LTO vom bisherigen Stand des Gesetzesvorhabens enttäuscht: "Das Einzige was dieser Gesetzentwurf neu machen will, die Einführung einer miserabel begründeten und konstruierten Ex-post-Triage, ist eine gravierende Verschlechterung für die Patientinnen und Patienten."

Auf die aufbrandende Kritik hat das BMG nun offenbar reagiert, indem es den Entwurf zurückzog. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte zudem in einem Pressestatement: "Ex-Post-Triage ist ethisch nicht vertretbar und weder Ärzten, Patienten noch Angehörigen zuzumuten. Deshalb werden wir es auch nicht erlauben." Ein Entwurf zur Regelung der Triage solle in Kürze vorgelegt werden.

Drängte Justizminister Buschmann auf umstrittene Ex-post-Triage?

Die Ex-post-Triage war offenbar auch zuvor schon zwischen dem federführenden BMG und dem Bundesjustizministerium umstritten. So kursierte bereits vor einigen Wochen ein Entwurf aus dem BMG, in dem sich die Ex-post-Triage noch nicht fand. In den am Freitag publik gewordenen Entwurf soll sie nach Medienberichten auf Drängen von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) aufgenommen worden sein. Die LIGA Selbstvertretung, die politische Interessenvertretung der Selbstvertretungs-Organisationen behinderter Menschen in Deutschland, forderte deshalb in einer Mitteilung vom Sonntag den Rücktritt von Buschmann. Man sei "entsetzt" über die im Entwurf vorgesehene Erlaubnis der Ex-post-Triage, heißt es dort. "Herr Buschmann verleiht hiermit die Lizenz zum Töten und stellt sich damit gegen die deutsche Verfassung und gegen das Bundesverfassungsgericht" zitiert die Mitteilung LIGA-Sprecherin Dr. Sigrid Arnade. Es könne daher als Konsequenz nur der Rücktritt von Minister Buschmann in Frage kommen.

Sollten Medienberichte, nach denen Buschmann derjenige war, der auf die Ex-post-Triage drängte, zutreffen, stellt sich die Frage, warum gerade ein Justizminister der FDP, die sich die Sicherung der Bürgerrechte wie keine andere auf die Fahnen geschrieben hat, eine juristisch so problematische Regelung in ein Gesetz schreiben möchte. Eine LTO-Anfrage an das Ministerium hierzu blieb bis zur Veröffentlichung dieses Artikels unbeantwortet.

Wie der neue Entwurf aussehen wird, ist noch unklar. Viel spricht aber dafür, dass die Regelung auch weiter, wie in den bisherigen Entwürfen vorgesehen, im Infektionsschutzgesetz (IfSG) ihren Platz finden soll – eine Entscheidung, die unter Experten ebenfalls auf Kritik stößt. Strafrechtlerin Jansen findet die Wahl des Regelungsortes angesichts des Gesetzeszwecks des IfSG nicht sinnvoll. Diesen umschreibt § 1 damit, "übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern".  Schließlich sollte "auch in sonstigen, nicht pandemiebedingten Knappheitssituationen der Diskriminierung vorgebeugt und Rechtssicherheit geschaffen werden", so Jansen.

Rechtsanwalt Tolmein resümiert: "Dem Gesetz fehlt alles was wichtig wäre: ein nicht diskriminierendes Zuteilungskriterium, wirksame Verfahrensregelungen, ein den Verhältnissen angemessener Eilrechtsschutz für Patientinnen und Patienten und eine wirksame Kontrolle der Kliniken im Vorfeld und bei der Durchführung von Priorisierungen." Deutschland habe "die Chance, ein Triage-Gesetz zu entwerfen, das auch im Triage-Fall Teilhabe sicherstellt, Benachteiligung verhindert und die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention umsetzt – stattdessen wird in den beiden zuständigen Ministerien Justiz und Gesundheit herumgewurschtelt, um irgendeine Regelung zu basteln, die möglichst alles beim Alten lässt: keine Innovation, keine juristische Fantasie, kein politischer Gestaltungswille. Das ist trostlos."

Zitiervorschlag

Ex-post oder doch nicht?: . In: Legal Tribune Online, 10.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48401 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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