Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über die Klage von Legasthenikern. Sie halten es für stigmatisierend, dass in ihrem Abi-Zeugnis steht, ihre Rechtschreibung sei nicht bewertet worden. Christian Rath über die Erfolgsaussichten.
Es gibt Bundesländer, die sind gegenüber Legastheniker-Schülern rücksichtsvoller als andere Bundesländer. Sie ermöglichen es, dass in der gymnasialen Oberstufe auf die Bewertung der Rechtschreibung verzichtet wird. Doch die Rücksichtnahme hat eine Kehrseite: Im Abiturs-Zeugnis findet sich dann ein entsprechender Vermerk, der die Schulabgänger für potenzielle Arbeitgeber als Legastheniker sichtbar macht. Dass eine Lese- und Rechtschreibstörung nicht gerade die Einstellungs-Chancen erhöht, liegt auf der Hand.
Fall aus Bayern
Konkret ging es am Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts am Mittwoch um Fälle aus Bayern. Drei damalige Gymnasiasten hatten im Sommer 2010 Abitur gemacht, mit gutem bis sehr gutem Ergebnis. Sie hatten den so genannten Notenschutz in Anspruch genommen, d.h. ihre Rechtschreibung wurde in der ganzen Oberstufe in allen Fächern nicht bewertet.
Deshalb stand in ihren Abiturzeugnissen jeweils der Vermerk: "Aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet."
Dagegen klagten sie durch alle verwaltungsgerichtlichen Instanzen. Sie wollten den aus ihrer Sicht diskriminierenden und stigmatisierenden Satz aus den Zeugnissen entfernt haben. Die letzte Entscheidung erfolgte 2015 in der Revision durch das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 29. Juli 2015; Az.: 6 C 35.14), das ihre Klage jedoch im Kern abwies.
Die Konstruktion des BVerwG
Der Vermerk sei, so das BVerwG, eine schlichthoheitliche Äußerung. Sie greife in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ein, weil das Zeugnis bei Bewerbungen vorgelegt werden muss und die Legasthenie damit auch gegen den Willen der Betroffenen offengelegt wird.
Im konkreten Fall sei der Vermerk zwar rechtswidrig, so das Leipziger Gericht, weil sowohl für den Notenschutz als auch für den Zeugnisvermerk eine gesetzliche Regelung erforderlich sei, die in Bayern aber fehlte. Übergangsweise sei der Vermerk aber auch auf Grundlage des entsprechenden bayerischen Erlasses gerechtfertigt.
Dabei liege kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) vor, so das BVerwG. Der Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" sei zwar auch hier einschlägig, da Legasthenie rechtlich als Behinderung gilt. Das aus Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG entwickelte Förderungsgebot rechtfertige auch den Notenschutz. Gerechtfertigt sei umgekehrt allerdings auch der Zeugnisvermerk, weil er die Aussagekraft der Abiturnoten erhöhe. Der Vermerk stelle klar, dass die Noten im konkreten Zeugnis nicht auf Grundlage des allgemeinen Bewertungsmaßstabs zustande kamen.
In seinem Urteil entwickelte das BVerwG eine komplexe Konstruktion, die auf der Unterscheidung von Nachteilsausgleich und Notenschutz beruht. Diese Konstruktion liegt inzwischen den Schulgesetzen aller Bundesländer zugrunde und gilt nicht nur für Legastheniker.
Bundesverwaltungsgericht: Nachteilsausgleich darf nicht ins Zeugnis, Notenschutz schon
Danach ermöglicht ein Nachteilsausgleich, dass der behinderte Schüler sein tatsächliches Leistungsvermögen doch zeigen kann. Es gelten dabei die gleichen Anforderungen wie für nicht-behinderte Schüler. Um Nachteile durch die Behinderung auszugleichen, kann so zum Beispiel die Bearbeitungszeit für eine Aufgabe verlängert werden, weil Legastheniker langsamer lesen. Oder es können Hilfsmittel zugelassen werden, weil Legastheniker mit einem Laptop besser schreiben können als mit der Hand. Auf einen derartigen Nachteilsausgleich bestehe ein verfassungsrechtlicher Anspruch, so das BVerwG. Er darf auch nicht konterkariert werden. Deshalb darf der Nachteilsausgleich nicht im Zeugnis erwähnt werden.
Im Gegensatz dazu sieht der Notenschutz von der Anwendung der allgemeinen Leistungsanforderungen ab. Es gilt dann entweder ein individueller Maßstab oder eine Teilleistung wird gar nicht geprüft, etwa die Rechtschreibung von Legasthenikern. Auf diesen Notenschutz bestehe kein verfassungsrechtlicher Anspruch, so das BVerwG, weil er die Aussagekraft der Schulnoten und der schulischen Abschlüsse beeinträchtigt. Über Art. 7 Abs. 1 GG (staatliche Schulaufsicht) sei die Aussagekraft von Zeugnissen ein konkurrierender Verfassungswert. Deshalb bestehe auch kein Anspruch, den Notenschutz im Zeugnis zu verschweigen.
Jahre später in Karlsruhe....
Der Bayerische Gesetzgeber reagierte schnell und schuf schon 2016 gesetzliche Grundlagen für den Notenschutz und die Zeugnisvermerke in Art. 52 des bayerischen Schulgesetzes (Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen, BayEUG) sowie in §§ 30 bis 36 der Bayerischen Schulordnung.
Nicht ganz so schnell reagierte das Bundesverfassungsgericht. Zwar steht das Verfahren schon seit 2017 auf der jährlichen Vorschau (die in Karlsruhe fast ohne Ironie "Lügenliste" genannt wird). Doch erst acht Jahre nach der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts fand nun in Karlsruhe eine mündliche Verhandlung statt.
Das Verfahren hat jedenfalls große praktische Relevanz. 3,4 Prozent aller bayerischen Schüler gelten als Legastheniker, 1,8 Prozent beträgt der Anteil an Gymnasien. Allein dort geht es also um rund 10.000 Schüler.
Ähnliche Regelungen wie Bayern haben aber auch sieben andere Bundesländer: Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Die übrigen Bundesländer sind aber nicht unbedingt Legastheniker-freundlicher. Dort gibt es den Zeugnisvermerk nur deshalb nicht, weil auch kein Notenschutz gewährt wird.
Kläger blieben incognito
Auch für die drei Kläger, inzwischen alle über 30 Jahre alt, sind die Vermerke in ihren Zeugnissen noch relevant. Sie wollen diese weiterhin entfernt haben. Allerdings klagen sie inzwischen auch stellvertretend für hunderttausende Legastheniker. Es steht aber kein Verband hinter ihrer Verfassungsbeschwerde.
Die drei Beschwerdeführer waren auch zur Verhandlung nach Karlsruhe gekommen, sie wollten aber nicht als Verfahrensbeteiligte auftreten, sondern blieben incognito im Publikum. Fragen zu ihren aktuellen Berufen blieben unbeantwortet. Stattdessen verlas ihr Anwalt Thomas Schneider ein gemeinsames Statement zu den Zeugnisvermerken, in dem es u.a. hieß: "Das ist, als würde man beim Vorstellungsgespräch einen Aufkleber tragen müssen mit der Beschriftung: 'Vorsicht, ich habe eine Behinderung. Willst du mich wirklich einstellen?'" Jeder, der so einen Zeugnisvermerk lese, "kann nur denken, dass der Bewerber zu dumm und grottenschlecht für alles ist".
Eine Diskriminierung liege schon deshalb vor, weil nur bei Legasthenikern die Rechtschreibung Thema im Zeugnis ist, so Anwalt Schneider. "Ob die Deutsch- oder Englisch-Noten nicht-behinderter Bewerber auf schlechter Rechtschreibung beruhen, erfährt kein Mensch", kritisierte der Kläger-Anwalt.
Für die bayerische Staatsregierung verteidigte Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) die Zeugnisvermerke. Sie schützten die Aussagekraft von Zeugnissen und sicherten die Vergleichbarkeit mit anderen Zeugnissen. Das Zeugnis müsse sich an allgemeinen Maßstäben orientieren, nicht an individuellen Maßstäben.
Legasthenie ist lebenslange Störung
Die Verfassungsrichter nutzten die dreieinhalbstündige mündliche Verhandlung vor allem, um mit Wissenschaftlern, Praktikern und der Bayerischen Staatsregierung über Sachfragen zu diskutieren. Um Verfassungsrecht ging es am Mittwoch-Nachmittag kaum.
So verdeutlichte der Psychiater Gerd Schulte-Körne von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, dass die Legasthenie eine "lebenslange Störung" ist. Die Lesestörung lasse sich auch mit intensiver Übung kaum verbessern. Bei der Rechtschreibstörung sei der Erfolg etwas besser.
Die Betroffenen litten oft stark unter der Störung und dem gesellschaftlichen Umgang mit ihr. 20 bis 30 Prozent der Legastheniker haben psychische Probleme, insbesondere pathologische Ängste. Trotz im Schnitt gleicher Begabung gingen Legastheniker häufiger auf die Hauptschule und weniger häufig aufs Gymnasium als andere Schüler. Legastheniker brechen sechs mal so häufig die Schule ab, so Schulte-Körne.
Von großer praktischer Bedeutung ist für Legastheniker und ihre Eltern die Frage, ob sie den Notenschutz überhaupt in Anspruch nehmen sollen. Sie müssen dies in Bayern spätestens am Ende der Mittelstufe, also in der zehnten Klasse, beantworten. Die Antwort gilt dann unveränderbar in der gesamten Oberstufe. Legastheniker müssen sich deshalb viel früher als andere mit ihrem weiteren Berufsweg beschäftigen. Wer ein Fach studieren will, bei dem es für die Zulassung auf Zehntel-Noten ankommt, wird eher den Notenschutz beantragen. Wer eine Ausbildung oder eine Anstellung anstrebt, wird eher auf den Notenschutz verzichten, um den bloßstellenden Vermerk zu vermeiden. "Die Mehrzahl der Schüler verzichtet auf den Notenschutz", hat Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, beobachtet, sie lassen also ihre Rechtschreibung benoten. Es gebe deshalb aber auch "keinen großen Leistungsabfall", so Meidinger.
Mögliche Lösungen
Am Ende der Verhandlung stellten die Richter das Modell des Bundesverwaltungsgerichts mit seiner strikten Unterscheidung von Nachteilsausgleich und Notenschutz grundsätzlich in Frage. So wies Berichterstatter Josef Christ darauf hin, dass auf dem Arbeitsmarkt nicht nur von Interesse sei, ob jemand überhaupt eine bestimmte Leistung erbringen kann, sondern ebenso, ob er dies in der üblichen Zeit schaffe. "Wenn ich jemand mehr Bearbeitungszeit für die Aufgabe gebe, dann messe ich ihn auch nicht am allgemeinen Maßstab", gab Christ zu bedenken.
Richterin Yvonne Ott wies darauf hin, dass es für das Gericht, wie meist, um die Verhältnismäßigkeit gehe, ob die negativen Wirkungen der Zeugnisvermerke angemessen sind in Bezug zu den gesetzgeberischen Zielen.
Dogmatisch könnte der Notenschutz aufgewertet werden, indem er dem Nachteilsausgleich gleichgestellt wird und Behinderte nach Art 3 Abs. 3 Satz 2 auch hierauf ein Anspruch eingeräumt wird. Dann dürfte auch die In-Anspruchnahme des Notenschutzes im Zeugnis gar nicht erwähnt werden.
Den Betroffenen würde es aber auch schon helfen, wenn sie sich differenziert entscheiden könnten: für Nachteilsausgleich (längere Bearbeitungszeit; ohne Zeugnisvermerk) und gegen Notenschutz (keine Korrektur der Rechtschreibung, mit Zeugnisvermerk). Bisher ist dies in Bayern nicht möglich. Es gibt nur ein Gesamtpaket, das man voll nutzen oder voll ablehnen kann. Man muss derzeit also auf den Nachteilsausgleich verzichten (auf den nach der Konzeption des BVerwG doch ein verfassungsrechtlicher Anspruch besteht), um die Stigmatisierung zu verhindern, die derzeit durch den Notenschutz ausgelöst wird. Auch diese Konstruktion könnte das Bundesverfassungsgericht beanstanden.
Das Urteil wird in einigen Monaten verkündet.
Bundesverfassungsgericht zur Transparenz von Behinderungen: . In: Legal Tribune Online, 29.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52114 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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