Das Urteil des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung rief Strafverfolger auf den Plan, die rechtsfreie Räume befürchten. Dr. Thilo Weichert zeigt in seinem Kommentar auf, dass das höchste deutsche Gericht auch den Weg für Alternativen frei gemacht hat - und wirbt für eine Kooperation von Datenschützern und Sicherheitsbehörden.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschied mit Urteil vom 02.03.2010 (Az. 1 BvR 256/08), dass die Umsetzung der Europäischen Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations- (TK-) Daten gegen die deutsche Verfassung verstößt und daher nichtig ist. Dies hat zur Folge, dass die seit Anfang 2009 bisher ein halbes Jahr lang bei den Telekommunikations-Zuganganbietern gespeicherten Verkehrsdaten umgehend gelöscht werden müssen.
Strafverfolger reagierten erzürnt. So titelte die Bild-Zeitung "BKA warnt – Datenschutz hilft Kinderschändern". Das Bundeskriminalamt (BKA) habe das Bundesinnenministerium darauf hingewiesen, dass ohne Zugriff auf diese Daten in rund 80 Prozent aller Fälle von Computer- und Handykriminalität "keine Ermittlungsansätze" vorhanden gewesen wären. Es dürfe "keine verfolgungsfreien Räume" geben.
Mit der letztgenannten Aussage hat das von Jörg Ziercke geleitete BKA natürlich recht: Im und über das Internet gibt es neue Formen von Kriminalität, die in einem Rechtsstaat nicht hingenommen werden dürfen, die bekämpft werden müssen. Insofern sind sich BKA, BVerfG und Datenschützer einig.
Rechtsstaatlichkeit auch bei der Verfolgung schwererS traftaten
Einigkeit sollte aber auch darüber bestehen, dass selbst im "Kampf gegen Kinderpornografie und Kindesmissbrauch" von den Strafverfolgern nur rechtsstaatliche Mittel eingesetzt werden dürfen. Mit Rechtsverstößen würden sich Strafverfolger – zweifellos mit edlen Motiven – auf eine Stufe mit dem stellen, was sie bekämpfen.
Es ist verblüffend und erschreckend, welche Strategie immer noch von vielen Sicherheitsbehörden – in der Tradition des früheren Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble – verfolgt wird: Es wird nicht das rechtsstaatlich Vertretbare, sondern das technisch Wünschenswerte politisch eingefordert.
Bisher hat die Politik diese Wünsche widerstandslos in Gesetze gegossen, die dann vom BVerfG wegen ihrer Verfassungswidrigkeit aufgehoben werden mussten: Lauschangriff, Rasterfahndung, präventive Telekommunikationsüberwachung, Online-Durchsuchung, Kfz-Kennzeichen-Scanning… Es gibt genügend Bespiele für den gemeinsamen zivilen Ungehorsam von Sicherheitsbehörden und Politik.
Es gibt Gründe und Hoffnung, dass in der Bundespolitik mit den Ministern de Maizière und Leutheusser-Schnarrenberger rechtsstaatliches Bewusstsein auch präventiv einzieht. Die Sicherheitsbehörden wären gut beraten, diese Wende mitzumachen.
Alternative "Quick Freeze": Präventiv wie repressiv – und nun ohne Richtervorbehalt
Hinsichtlich der Nutzung von TK-Verkehrsdaten bedeutet dies, dass endlich ernsthaft "Quick Freeze" angegangen werden muss. Dabei handelt es sich um ein schnelles Einfrieren von Telekommunikationsdaten im Fall eines konkreten Straftatverdachtes oder einer Gefahr. Datenschützer fordern dieses Vorgehen seit Jahren als Alternative zur Vorratsdatenspeicherung. Technisch kann ein solches Einfrieren innerhalb von wenigen Sekunden realisiert werden, wenn die hierfür nötigen Kommunikations- und Entscheidungswege eingerichtet sind.
Das BVerfG hat in seiner Vorratsdatenspeicherungsentscheidung hierfür den Weg frei gemacht, sogar insofern ausdrücklich auf den Richtervorbehalt verzichtet. Die Datenschützer waren, auch wenn sie Maximalforderungen zurückgewiesen haben, noch nie Verhinderer von sinnvoller Strafverfolgung und Gefahrenabwehr.
Es stünde den Sicherheitsbehörden gut an, das schon lange bestehende Kooperationsangebot der Datenschützer anzunehmen – zum Wohle der Sicherheit. Themen hierfür gibt es mehr als genug: von der Modernisierung der Informationstechnik bei Polizei und Nachrichtendiensten (INPOL und NADIS) über die verbesserte Organisation und Ausstattung der Internet-Kriminalitätsbekämpfung bis hin zu wirksamen und grundrechtsverträglichen Eingriffsbefugnissen – zum Beispiel zur Speicherung von Telekommunikations-Verkehrsdaten.
Der Autor Dr. Thilo Weichert ist Landesbeauftragter für Datenschutz Schleswig-Holstein und Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz in Kiel. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen u.a. zum Recht des Datenschutzes.
Telekommunikations-Verkehrsdaten: . In: Legal Tribune Online, 16.05.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/350 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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