Strafrecht und hochbetagte Täter: Senioren hinter Git­tern

von Dr. Sven Großmann

30.10.2017

2/2: Spezialprävention als Feigenblatt?

Eine Auseinandersetzung mit den Fragen nach Sinn und Zweck und Legitimität der Bestrafung von Personen weit fortgeschrittenen Alters ist daher dringend erforderlich. Es scheint, dass insbesondere der zentrale Strafzweck unseres rechts- und sozialstaatlichen Strafrechts, nämlich das spezialpräventive Einwirken auf den Täter durch aktive Resozialisierung, spätestens bei über 80-Jährigen zum Feigenblatt verkommt.

Wenn Senioren bislang als Straftäter in der öffentlichen Wahrnehmung auftauchten, dann allenfalls als NS-Verbrecher. Angesichts ihres weit fortgeschrittenen Alters war auch bei ihnen ein resozialisierendes Einwirken weder möglich noch zur Verhinderung ähnlicher Verbrechen auf Grund der komplett gewandelten gesellschaftlichen Umstände nötig. Dennoch war es im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Aufarbeitung und Erinnerung richtig und wichtig, dass diese Taten auch über ein halbes Jahrhundert nach ihrer Begehung noch verfolgt und bestraft werden konnten und sich die Täter am Ende ihres Lebens ihrer Verantwortung nicht länger entziehen konnten.

Die Legitimation ihrer Anklage und Verurteilung wurde damit letztlich angesichts der Monstrosität der vorgeworfenen Verbrechen zu Recht von der Gesellschaft nicht in Frage gestellt. Auch innerhalb der Strafjustiz dürften derartige Verfahren auf keine großen Bedenken gestoßen sein, ermöglichten sie doch eine zumindest symbolische Wiedergutmachung für die in den Nachkriegsjahren tausendfach aktiv verhinderte Verfolgung der damals noch frischen Taten und ihrer noch jungen Täter.

Es braucht eine neue Straftheorie

An der Aufklärung und Ahndung der Taten einer 84-jährigen Ladendiebin besteht sicherlich kein übergeordnetes nationales Interesse. Unterstellen wir der Täterin eine robuste Gesundheit und eine uneingeschränkte Vollzugsfähigkeit: Was macht es für die Gesellschaft so schwer erträglich, sie inhaftiert zu sehen? Ihren Vorstrafen nach zu urteilen, ließ sie sich offensichtlich nicht durch die bereits verhängten Geld- und Bewährungsstrafen beeindrucken.

Ist es die Gefahr, dass eine Haftstrafe von über 80-Jähriger faktisch "lebenslänglich" bedeuten kann? Ist ihre Kriminalität – analog zu der von Jugendlichen –  eine Besonderheit des Alters, eine Art Schrulligkeit von der eine geringere Gefahr für das gesellschaftliche Miteinander ausgeht, so dass die staatliche Strafgewalt hier weniger regulierend eingreifen muss? Haben wir sie insgeheim schon aufgegeben?

Der Fall zeigt, wie schwer es unserer mitten im demographischen Wandel befindlichen Gesellschaft fällt, klassische Rollenbilder aufzugeben. Es wird einen komplizierten Balanceakt bedeuten, dem Phänomen der Alterskriminalität umfassend gerecht zu werden, ohne dabei weder straffälligen Senioren unverhältnismäßige Härten zuzumuten noch sie zu entmündigen und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Im Interesse unseres ohnehin stark gefährdeten Generationenvertrags sollten wir uns diesem Thema intensiv widmen.

Dabei wird insbesondere zu klären sein, ob eine Bestrafung über 80-Jähriger allein dadurch legitimiert werden kann, dass die Straftat einen Normbruch darstellt,  auf den reagiert werden muss. Da eine solche Reduzierung der Strafe auf den bloßen Normgeltungsanspruch dem Ansatz der liberalen Straftheorien widerspricht und der klassische Resozialisierungsansatz bei Senioren verfehlt wirkt, sollte ernsthaft darüber diskutiert werden, wie eine Straftheorie aussehen könnte, die sich (ähnlich wie der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht) speziell an Ursachen und Folgen der Altersdelinquenz orientiert.

Die Frage, ob man wegen eines einfachen Ladendiebstahls von Waren im Wert von 70 € eine Gefängniszelle beziehen sollte, dürfte im Vergleich dazu deutlich leichter zu beantworten sein.

Dr. Sven Großmann ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. hc. Michael Kubiciel an der Universität Augsburg. Er forscht zu strafrechtlichen Grundsatzfragen und widmet sich dabei insbesondere der Frage, wie das liberal-rechtstaatliche Strafrecht klassischer Prägung der Komplexität der Moderne begegnen kann.

Zitiervorschlag

Strafrecht und hochbetagte Täter: . In: Legal Tribune Online, 30.10.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25313 (abgerufen am: 07.11.2024 )

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