Änderung der StPO: Geheim­sache Ermitt­lungs­ver­fahren

von Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor

01.03.2021

Um verdeckte Ermittlungen nicht zu gefährden, sollen Beschuldigte nach dem Willen der GroKo im Nachhinein nicht mehr über Durchsuchungen und Beschlagnahmen informiert werden. Alexander Ignor hält diese Pläne für rechtsstaatswidrig.

Die Bundesregierung will den Ermittlungsbehörden im Rahmen des kürzlich vorgelegten Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung (StPO) die Möglichkeit eröffnen, im Falle von Durchsuchungen und Beschlagnahmen die bislang gebotene Benachrichtigung der davon betroffenen beschuldigten Personen zeitweise zurückzustellen (§ 95a StPO-E). Damit droht ein tiefgreifender Wandel des Ermittlungsverfahrens weg von grundsätzlich offenen Ermittlungsmaßnahmen - eine Entwicklung, die mit den Grundprinzipien des Rechtsstaats kollidiert.

Im Jahre 2013 hat sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Antiterrordateigesetzes befasst und dieses teilweise für verfassungswidrig erklärt. In diesem Zusammenhang hat es ausgeführt: "Die Rechtsordnung unterscheidet zwischen einer grundsätzlich offen arbeitenden Polizei, die auf eine operative Aufgabenwahrnehmung hin ausgerichtet und durch detaillierte Rechtsgrundlagen angeleitet ist, und den grundsätzlich verdeckt arbeitenden Nachrichtendiensten, die auf die Beobachtung und Aufklärung im Vorfeld zur politischen Information und Beratung beschränkt sind und sich deswegen auf eine weniger ausdifferenzierte Rechtsgrundlage stützen können. Eine Geheimpolizei ist nicht vorgesehen."

Die Maxime, dass die Polizei grundsätzlich offen arbeiten soll, gilt sowohl für die Wahrnehmung ihrer präventiven Aufgaben als auch für ihre repressive Tätigkeit. Das zeigt sich insbesondere in der rechtlichen Ausgestaltung der beiden Ermittlungsmaßnahmen, von denen bei der Strafverfolgung vermutlich am meisten Gebrauch gemacht wird: Bei der Beschlagnahme von Gegenständen, die als Beweismittel in Betracht kommen, und bei der dieser regelmäßig vorausgehenden Durchsuchung.

Beeinträchtigung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

Selbstverständlich sind weder die Staatsanwaltschaften noch die Angehörigen des Polizeidienstes verpflichtet, die davon betroffen Personen im Vorhinein über diese Ermittlungsmaßnahmen zu unterrichten. Aber wenn sie durchgeführt werden, dann gelangen sie den Betroffenen in der Regel auch zur Kenntnis; entweder, weil diese sie unmittelbar wahrnehmen oder weil sie darüber im Nachhinein unterrichtet werden. Hierzu sind die Strafverfolgungsbehörden - bislang - gemäß § 33 Abs. 3 StPO verpflichtet. Das soll nach der Vorstellung der Bundesregierung künftig anders werden - eine aus rechtsstaatlicher Sicht bedrohliche Perspektive.

Die Vorschrift des § 33 Abs. 3 StPO ist unmittelbarer Ausdruck des verfassungsrechtlich verankerten Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Dieses ist nach Auffassung des BVerfG ein prozessuales "Urrecht" des Menschen und überdies ein objektivrechtliches Verfahrensprinzip, das für ein rechtsstaatliches Verfahren im Sinne des Grundgesetzes schlechthin konstitutiv sein soll.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist in Ermittlungsverfahren für die beschuldigten Personen von größter praktischer Bedeutung. Er ermöglicht es ihnen, sich gegen den Tatvorwurf zur Wehr zu setzen und auf die staatlichen Ermittlungen zu ihren Gunsten Einfluss zu nehmen. Insbesondere voreiligen, sich letztlich als unzutreffend erweisenden Vorwürfen – und das sind, aufs Ganze gesehen, die meisten – kann die Verteidigung effizient entgegentreten. Allerdings nur dann, wenn sie darüber informiert wird.

Primat der Strafverfolgung

Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Brisanz des geplanten § 95a StPO-E: Dieser sieht die Möglichkeit vor, im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens Beschlagnahmen und die ihr vorausgehenden Durchsuchungen bei Dritten vor den hiervon betroffenen beschuldigten Personen entgegen den §§ 33 Abs. 3, 35 Abs. 2 StPO geheim zu halten, ggf. bis zum Abschluss der Ermittlungen.

Die Benachrichtigung soll so lange zurückgestellt werden können, bis sie ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks möglich ist, wenn es sich bei der dem Ermittlungsverfahren zugrundeliegenden Straftat um "eine Straftat von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung, insbesondere eine in § 100a Absatz 2 bezeichnete Straftat" handelt, bzw. um den strafbaren Versuch einer solchen Straftat, und die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre. Wohl gemerkt: Nur für die Zurückstellung der Benachrichtigung der beschuldigten Personen müssen diese Voraussetzungen vorliegen. Für die Ermittlungsmaßnahme selbst, also die Beschlagnahme und die ihr vorausgehende Durchsuchung, soll weiterhin der Anfangsverdacht einer wie auch immer gearteten Straftat genügen.

Um die Geheimhaltung der Maßnahmen abzusichern, sieht die Vorschrift vor, dritten Personen zu verbieten, die beschuldigten Personen hierüber zu unterrichten. Als "strafähnliche" Sanktionen von Zuwiderhandlungen gegen ein "Offenlegungsverbot" sind Ordnungsgeld und Ordnungshaft vorgesehen.

§ 95a StPO-E ist eine Vorschrift, die den Geist der Kriminaltaktik atmet und von den enorm erweiterten Möglichkeiten der Strafverfolgung im Zuge der Digitalisierung inspiriert ist. Sie soll primär verhindern, dass eine beschuldigte Person infolge einer Durchsuchung und Beschlagnahme Kenntnis von dem gegen sie geführten Ermittlungsverfahren erhält, infolgedessen ihr Kommunikationsverhalten ändert und deshalb etwaige gleichzeitige oder künftige heimliche Ermittlungsmaßnahmen sinnlos werden. Dies betreffe vor allem schwere Delikte aus den Bereichen Kinderpornographie, Waffen- und Drogenhandel aber auch Staatsschutzdelikte und Cyberkriminalität.

Nichtachtung von Grundrechten

Indes: Tatsächlich betrifft der geplante § 95a StPO-E ein weit darüber hinaus gehendes Spektrum von Straftaten. Die Norm ermöglicht bereits beim Anfangsverdacht wesentlich weniger schwerer Straftaten den heimlichen staatlichen Zugriff auf das gesamte elektronische Material einer beschuldigten Person, also auf E-Mails oder Chat-Inhalte, auf Inhalte von Nutzerkonten sozialer Netzwerke oder in Clouds gespeicherte Daten. Das wird nicht nur die Verteidigung beeinträchtigen, sondern lässt Grundrechtsbeeinträchtigungen befürchten.

Die bislang zulässigen geheimen Ermittlungsmaßnahmen, insbesondere die Online-Durchsuchung (100b StPO) und die akustische Wohnraumüberwachung (100c StPO), sind an strenge gesetzliche Voraussetzungen gebunden, sowohl mit Blick auf die Anordnungsvoraussetzungen als auch hinsichtlich des Verfahrens. Sie setzen den Verdacht gesetzlich bestimmter besonders schwerer Straftaten voraus und dürfen grundsätzlich nur durch die Staatsschutzkammern bei den Landgerichten angeordnet werden (§ 100e StPO). Der Kernbereichsschutz muss gewahrt werden.

Das hat seinen guten verfassungsrechtlichen Grund. Die Maßnahmen greifen tief in die Grundrechte der hiervon Betroffenen ein, insbesondere in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, das sog. IT- Grundrecht, das das BVerfG im Jahre 2008 eigens mit Blick auf die Online-Durchsuchung kreiert hat (1 BvR 370/07). Es wollte damit den Bürgerinnen und Bürgern einen verstärkten Schutz vor der staatlichen Infiltration informationstechnischer Systeme verschaffen. Diese Infiltration ermöglicht es mittlerweile, ggf. Jahrzehnte eines persönlichen Kommunikationsverhaltens nachzuvollziehen und tiefe Einblicke in das Leben eines Menschen zu gewinnen. Zurecht hat deshalb das BVerfG die Schwelle für Eingriffe in das IT-Grundrecht sehr hoch gesetzt und solche grundsätzlich nur bei einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut für zulässig erachtet.

Rechtsschutz schwach ausgeprägt

Es verwundert, dass die Gesetzesmaterialien zu § 95a StPO-E den dadurch künftig ermöglichten heimlichen Eingriff in das IT-Grundrecht ohne die Voraussetzungen der §§ 100b und 100c StPO mit keinem Wort reflektieren. Haben die Verfasser das Grundrecht übersehen oder wollten sie es nicht sehen?

Ein weiteres Manko: Der im Entwurf vorgesehene Rechtsschutz ist nur sehr schwach ausgeprägt. Vorgesehen ist nur ein einfacher, zudem noch modifizierter Richtervorbehalt. Die Ermittlungspersonen sollen zunächst auch ohne eine richterliche Anordnung von der Benachrichtigung absehen können. Entfällt die Gefährdung des Untersuchungszwecks, muss zwar die Benachrichtigung nachgeholt und die beschuldigte Person darauf "hingewiesen"“ (nicht belehrt) werden, dass sie zur Überprüfung der Maßnahme das zuständige Gericht anrufen kann. Ein nachträglich als rechtswidrig festgestelltes Absehen von der Benachrichtigung der Betroffenen wird aber keine Folgen haben. Schließlich hat der Bundesgerichtshof schon vor einigen Jahren entschieden, dass insoweit ein Verwertungsverbot nicht in Betracht kommt.

Vor diesem Hintergrund bleibt zu hoffen, dass die Pläne der Bundesregierung im anstehenden parlamentarischen Verfahren korrigiert werden. Alles andere wäre auch fatal. Denn heimlichen Ermittlungsmaßnahmen wohnt eine eigene Dynamik inne: Muss die ermittelnde Person eine Kontrolle ihrer Tätigkeit nicht fürchten, besteht die Gefahr, dass sie  diese je länger desto intensiver und ungehemmter fortsetzt.

Der Autor Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin. Er ist Vorsitzender des Strafrechtsauschusses der BRAK und außerplanmäßiger Professor an der Berliner Humboldt-Universität.

Zitiervorschlag

Änderung der StPO: . In: Legal Tribune Online, 01.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44386 (abgerufen am: 09.11.2024 )

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