Angriffskrieg gegen die Ukraine: Ein Son­der­tri­bunal für das Ver­b­re­chen der Aggres­sion

Gastbeitrag von Dr. Franziska Rinke

30.11.2022

Immer mehr Stimmen fordern ein Sondertribunal für den Ukraine-Krieg. Im Sicherheitsrat hat Russland ein Vetorecht. Allerdings gibt es weitere Möglichkeiten zur Errichtung eines Sondergerichtshofs, erläutert Franziska Rinke.

Noch ist unklar, wie lange der Krieg in der Ukraine dauern wird und welches Ende er nimmt. Eines ist jedoch klar: Mit dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bricht Russland das völkerrechtlich anerkannte Gewaltverbot. Einen Angriffskrieg zu beginnen, ist das höchste internationale Verbrechen – sozusagen die Ursünde, die allen folgenden Kriegsverbrechen Tür und Tor öffnet. Aber wie können diejenigen, die das Verbrechen der Aggression begehen, strafrechtlich verfolgt werden? Es geht mithin um Personen der obersten militärischen und politischen Führung.  

Aufgabe des seit Juli 2002 eingerichteten Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ist es, Einzelpersonen für besonders schwerwiegende Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Der IStGH ist zuständig für die Verfolgung von Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Verbrechen der Aggression.  

Bereits der völkerrechtliche Vertrag, das sog. Römische Statut aus dem Jahr 1998 (Rom-Statut), der die Grundlage für die Schaffung des IStGH darstellt, erwähnt das Verbrechen der Aggression. Erst 19 Jahre später wurde die Zuständigkeit des IStGH für die Verfolgung aktiviert. Doch die Hürden für ein etwaiges Verfahren sind außerordentlich hoch – und als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN) besitzt Russland in vielen Fragen ein Vetorecht. 

Zuständigkeitslücke des IStGH 

Es gibt zwei Wege, wie die Zuständigkeit des IStGH beim Verbrechen der Aggression ausgeübt werden kann: Erstens könnte der Sicherheitsrat dem Gerichtshof eine Situation überweisen. Im Übrigen kann sich ein Vertragsstaat an den Ankläger wenden, und dieser kann auch selbst ein Verfahren zu einer bestimmten Situation in Gang setzen. 

Weder Russland noch die Ukraine sind Vertragsstaaten des Rom-Statuts. Die Ukraine hat sich zwar der Gerichtsbarkeit des IStGH unterworfen, das gilt jedoch nicht für das Verbrechen der Aggression. Hier kann aufgrund eines politischen Kompromisses nicht gegen Staatsangehörige von Nichtvertragsstaaten vorgegangen werden, sofern der Sicherheitsrat hierzu kein "grünes Licht" gibt. Aufgrund des Vetorechts Russlands scheidet diese Option aus.  

Aus diesem Grund wurde schon früh über Alternativen nachgedacht, um die Zuständigkeitslücke des IStGH zu überwinden. Der Ruf nach einem Sondertribunal wurde laut, d.h. einem für eine konkrete Situation und eine begrenzte Zeit einberufenen Strafgerichtshof.  

Zur Umsetzung kommen verschiedene Modelle in Betracht. Diskutiert wird eine Anbindung an die UN, die Europäische Union (EU) oder den Europarat.   

Vertrag zwischen der Ukraine und den UN 

Der wohl prominenteste Vorschlag ist ein Vertrag zwischen der Ukraine und den UN. Dies würde in jedem Fall dem fundamentalen Interesse der internationalen Gemeinschaft gerecht werden. Problematisch ist dabei jedoch wiederum die privilegierte Stellung Russlands im Sicherheitsrat. Die Grundlage für die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (1993) und für Ruanda (1994) bildete jeweils eine Resolution des Sicherheitsrats. Russland würde derzeit jedem dahingehenden Beschluss seine Zustimmung verweigern.  

Als Alternative wird daher vorgeschlagen, den Vertrag auf Empfehlung der UN-Generalversammlung zu schließen. Der Weg über die Generalversammlung erscheint vielversprechend. Immerhin haben Anfang März 141 Staaten für eine Resolution gestimmt, die die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine auf das Schärfste missbilligt. Im Oktober verurteilten sogar noch mehr Staaten die russische Annexion von Gebieten im Osten der Ukraine.  

Im Gegensatz zu solchen des Sicherheitsrates haben Resolutionen der Generalversammlung jedoch keine völkerrechtliche Bindungswirkung. Sie ziehen also nicht unmittelbar Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten nach sich, sondern haben grundsätzlich nur empfehlenden Charakter.  

Die Generalversammlung kann aber den Generalsekretär ermächtigen, mit der Ukraine die vertragliche Grundlage für die Errichtung eines Sondertribunals auszuhandeln. Dem würde Kiew durch ein völkerrechtliches Abkommen mit den UN zustimmen. Eine Orientierung bieten hier die Außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha (2003). Noch gewichtiger ist der Präzedenzfall des Sondertribunals für Sierra Leone (2002). Zwar handelte hier im Vorfeld des entsprechenden Vertrags der Sicherheitsrat, aber ausdrücklich nicht in Gestalt einer bindenden Entscheidung, sondern in Form einer Empfehlung.  

Die europäische Lösung 

Weitere denkbare Foren sind die EU und der Europarat. Letzterem gehört die Ukraine als Mitglied an. Hierfür müsste wiederum ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen der Ukraine und der EU bzw. dem Europarat geschlossen werden. 

Auch der politische Wille scheint auf der europäischen Ebene vorhanden. Sowohl das Europäische Parlament als auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates haben bereits wenige Monate nach dem kriegerischen Angriff in einer Resolution die Schaffung eines Sondertribunals gefordert. Erst kürzlich hat sich das Ministerkomitee des Europarates in gleicher Weise geäußert. Auch beim Treffen der Justizminister der G7-Staaten am Dienstag ging es unter anderem um ein Sondertribunal für den Ukraine-Krieg. "Wir sind offen dafür, dies zu diskutieren", so EU-Justizkommissar Didier Reynders. 

Ein Weg über die EU oder den Europarat scheint auch aus einem weiteren Grund zielführend: Viele Mitgliedstaaten haben die Erweiterung des Rom-Statuts mit Blick auf das Verbrechen der Aggression bereits ratifiziert und implementiert, etwa Deutschland, Belgien, Spanien und Polen.  

Kosovo-Sonderkammern als Vorbild 

Als Vorbild könnten die 2016 in Den Haag errichteten Kosovo-Sonderkammern dienen. Das "Kosovo Specialist Chambers and Specialist Prosecutor’s Office" ist ein mit internationalen Richter:innen besetztes Gericht, das nach kosovarischen Recht urteilt und über die im Kosovo-Krieg begangenen Kriegsverbrechen entscheidet. Daher ist es kein internationales Gericht. Die rechtliche Grundlage bildet durch Verfassungsänderung die kosovarische Verfassung.  

Niederländische Abgeordnete des Unterhauses haben bereits mehrheitlich dafür gestimmt, einem etwaigen Sondergericht in Den Haag seinen Sitz einzuräumen. Auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen haben die EU aufgefordert, ein Sondertribunal einzurichten.  

Am Sitz der Vereinten Nationen in New York hat sich inzwischen eine aus acht Staaten bestehende "Core Group" gebildet, die die Initiative vorantreibt. Der Gruppe gehören neben der Ukraine und den baltischen Staaten Liechtenstein, die Niederlande, Schweden und die Tschechische Republik an. 

Ein klares Bekenntnis der Bundesregierung fehlt 

Auf der politischen Ebene ist also einiges in Bewegung gekommen. Doch ein klares Bekenntnis der Bundesregierung lässt auf sich warten. In ihrem Antrag vom 9. November forderte die CDU/CSU-Fraktion die Bundesregierung auf, sich im Interesse der Durchsetzung des Völkerrechts und der Gerechtigkeit zugunsten der Ukraine auf europäischer Ebene und darüber hinaus für die Einrichtung eines Sondertribunals einzusetzen.  

Gerade auch mit Blick auf die historische Vergangenheit haben sich deutsche Bundesregierungen seit 1998 nachdrücklich dafür eingesetzt, dass auch das Verbrechen der Aggression international geahndet werden kann. Mit Russlands Angriffskrieg sollte sich Deutschland seiner Verantwortung hier nicht länger entziehen. 

IStGH-Statut sollte Aggression genauso behandeln wie andere Völkerstraftaten 

Langfristig kann die Lücke der Strafverfolgung allerdings nur dadurch überzeugend geschlossen werden, dass das Verbrechen der Aggression im IStGH-Statut genauso behandelt wird, wie die drei anderen Völkerstraftaten, indem die Zuständigkeit auch auf Nicht-Vertragsstaaten ausgeweitet wird. Die Schaffung eines Sondertribunals für die Ukraine darf das Vorantreiben dieser Änderung auf internationaler Ebene nicht ersetzen.  

Der völkerrechtswidrige Krieg gegen die Ukraine kostet unzählige unschuldige Menschenleben. Er ist ein Angriff auf die Ukraine. Er ist aber auch ein Angriff auf die internationale Gemeinschaft als Ganzes mit ihrem internationalen Gefüge von Frieden und Sicherheit. 

Ein Sondertribunal ist immer nur eine Notlösung. Im konkreten Fall ist diese allerdings wichtig, um der ansonsten drohenden Erosion des Völkerrechts entgegenzuwirken. Zugleich sollte ein solches Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression der zukünftigen Verfolgung – und besser noch: Verhütung – von Angriffskriegen durch den IStGH auf verbesserter Rechtsgrundlage den Weg weisen.       

Dr. Franziska Rinke ist Referentin für Rechtsstaatsdialog und Völkerrecht bei der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Zitiervorschlag

Angriffskrieg gegen die Ukraine: . In: Legal Tribune Online, 30.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50325 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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