Kriminologe zur Silvesternacht in Köln: "Keine 'neue Dimen­sion der orga­ni­sierten Kri­mi­na­lität'"

Interview von Constantin Baron van Lijnden

06.01.2016

2/2: "Es wird kaum jemand verurteilt werden"

LTO: Wieso das?

Albrecht: Ich wäre erstaunt, wenn mehr als ein ganz kleiner Bruchteil der Täter ermittelt und mit der für eine Verurteilung notwendigen Gewissheit überführt würde. Wie auch? Augenzeugen können Sie vergessen. Stellen Sie sich selbst mal vor, wie gut Sie in der Lage wären, Wochen später aus einer Lichtbildmappe Gesichter zu identifizieren, die Sie zuvor nur ein Mal gesehen haben. Unter Stress, in einer Menschenmasse, bei Nacht, vielleicht auch selbst alkoholisiert. Und dann noch zu sagen, wer von denen nur daneben stand, und wer Ihnen in die Tasche oder den Schritt gegriffen hat. Bei solchen Massenveranstaltungen später einzelne Tatbeiträge verlässlich zuzuordnen, ist fast unmöglich.

Die Bahnhofskameras helfen da auch kaum weiter, denn die Bilder sind meist viel zu niedrig auflösend. Und selbst die Opfer sind größtenteils nicht bekannt. Die letzte mir bekannte Zahl aus Köln sind 90 Strafanzeigen. Bei Delikten dieser Art, wo die Opfer sich selbst ausrechnen können, wie unwahrscheinlich die Ergreifung der Täter ist, machen sich die wenigsten überhaupt die Mühe, zur Polizeistelle zu gehen. In der Dunkelfeldforschung geht man bei solchen Massenversammlungen von einer Anzeigenquote von etwa 15 Prozent aus.

"Normale Kameras zur Videoüberwachung bei großen Menschenmengen nutzlos"

LTO: Was könnte man denn tun, um ähnliche Vorfälle in Zukunft zu verhindern? NRW-Innenminister Jäger kündigte für weitere Großveranstaltungen wie etwa Karneval verstärkte Sicherheitsmaßnahmen an, die Rede war unter anderem von mehr Videoüberwachung.

Albrecht: Zu Karneval ist die Stadt wohl noch mehr und länger im Ausnahmezustand als zu Neujahr, da können Sie unmöglich jeden Fleck filmen. Punktuell ist das natürlich möglich, aber auch eine Frage des Geldes: Es gibt zum Beispiel ultrahochauflösende Überwachungskameras aus dem militärischen Sektor – wenn Sie ein paar davon rund um den Bahnhofsplatz installieren, könnte das schon helfen, um Täter selbst in einer großen Menschenmenge zu identifizieren und wenigstens nachträglich gerichtsfest zu überführen.

Rechtlich ist eine solche Überwachung relativ unproblematisch, wenn sie sich auf öffentliche bzw. halböffentliche Plätze wie das Bahnhofsinnere beschränkt, ein begründeter Anlass besteht und sichergestellt ist, dass die Bilder nachträglich wieder gelöscht werden, soweit sie nicht polizeilich relevant sind.

"Besten Schutz bietet Polizeipersonal vor Ort"

LTO: Was halten Sie in dem Zusammenhang von der Einrichtung von Gefahrenzonen, wie diese etwa in Teilen Hamburgs errichtet wurden?

Albrecht: Gefahrenzonen bedeuten ja nur, dass die Polizei in diesen Gebieten Personen sehr niederschwellig anhalten oder durchsuchen darf. Das Problem liegt bei Großveranstaltungen und auch bei der alltäglichen Diebesbandenaktivität aber weniger im Bereich des Rechtlichen als des Tatsächlichen: Zu wenig Polizeibeamte auf zu viele Menschen, Täter, die ihre Beute schnell beiseite schaffen, etc. Da die einzelnen Delikte meist relativ leichter Art sind, muss man die Personen außerdem schon etliche Male erwischen, bevor sie tatsächlich inhaftiert werden – ganz besonders, wenn sie, was häufig der Fall ist, noch unter das Jugendstrafrecht fallen. Die Polizei versucht auf solche Intensivtäter zu reagieren, indem sie sie unter Beobachtung stellt, aber das erfordert sehr viel Personal – dieses an Brennpunkten aufzustocken, ist wohl auch der erfolgversprechendste Ansatz.

LTO: Die Lage in Köln bezeichnete die dortige Polizei allerdings in einer Pressemitteilung am Neujahrstag noch als "weitgehend ruhig"…

Albrecht: Ich gehe davon aus, dass das ein Versehen derjenigen Person war, die dort die Pressearbeit macht – jedenfalls haben Beamte später durchaus erklärt, dass sie ein ungewöhnlich hohes Maß an Straftaten erlebt hätten; eine Polizistin wurde offenbar sogar selbst belästigt, und es wurde auch Verstärkung gerufen. Die Polizisten waren sicher nicht total ahnungslos, aber das ganze Ausmaß konnten Sie wohl aus denselben Gründen nicht erfassen, aus denen sie es nicht verhindern konnten.

Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Albrecht ist  Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i.Br. sowie Honorarprofessor und Mitglied der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist Mitherausgeber mehrerer Publikationen zum Bereich der Kriminologie.

Das Interview führte Constantin Baron van Lijnden.

Zitiervorschlag

Constantin Baron van Lijnden, Kriminologe zur Silvesternacht in Köln: . In: Legal Tribune Online, 06.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18039 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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