Die Regierung will vor neuen Sicherheitsgesetzen strenger auf Notwendigkeit und Qualität prüfen. Ein wichtiger Schritt, meinen Mark A. Zöller und Tanja Niedernhuber. Bei einem aktuellen Vorhaben wurde der gute Vorsatz schon gebrochen.
Die Schlagzahl neuer Sicherheitsgesetze im Bund und in den Ländern hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter erhöht. Gründe dafür sind die rasante technologische Entwicklung, eine zunehmende Prägung des Sicherheitsrechts durch europa- und völkerrechtliche Vorgaben und nicht zuletzt eine Verschärfung der globalen Bedrohungslage.
Bei den Gesetzesänderungen rund um Nachrichtendienste, Polizei und Strafverfolgung geriet die Beachtung von Qualitätsstandards für eine verfassungskonforme Gesetzgebung in der Vergangenheit viel zu oft zu einem Lippenbekenntnis. Mehr Befugnisse, abgesenkte Voraussetzungen, weniger Kontrolle. Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition von Ende 2021 bietet endlich Grund zur Hoffnung, in Zukunft sollen Sicherheitsgesetze strenger auf Notwendigkeit und Qualität geprüft werden – im Rahmen einer "Überwachungsgesamtrechnung".
Diese Woche hat allerdings die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit ihrem Aktionsplan gegen Rechtsextremismus ein Gesetzespaket im Sicherheitsrecht angekündigt, das neue Befugnisse schaffen soll. Die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Verbesserungen in der Sicherheitsgesetzgebung will sie bedauerlicherweise nicht abwarten.
Sachverständige allzu oft nur Statisten bei der Gesetzgebung
Wer als Sachverständiger an einem Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist, fühlt sich gelegentlich wie in einem schlechten Film. Spätestens wenn für die Stellungnahme zu einer mehr als hundertseitigen Drucksache, an der das federführende Ministerium Monate, manchmal auch Jahre gefeilt hat, eine Stellungnahmefrist von wenigen Werktagen gewährt wird, muss einem bewusst sein, dass es nicht um echtes Interesse der Politik an wissenschaftlichem Feedback geht. Der Sachverständige ist Statist in einem Spiel, dessen Ausgang längst feststeht. Verfassungsrechtlich zwingende Vorgaben wie die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Europa, Bund und Ländern, massive Bestimmtheitsdefizite bei den vorgeschlagenen Regelungen oder die fehlende Auseinandersetzung mit Fragen der Verhältnismäßigkeit werden von der Ausschussmehrheit dann mit leichter Hand beiseite gewischt.
Seit Jahrzehnten werden die Ermächtigungsgrundlagen für Grundrechtseingriffe von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten ausgeweitet. Eine Rücknahme von einmal erteilten Befugnissen findet demgegenüber so gut wie nie statt. Korrekturen durch die Verfassungsgerichte erfolgen häufig erst Jahre später und dann meist auch nur marginal. Schließlich können diese mit Blick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung kein neues Regelungsgefüge herstellen, sondern nur die äußersten Grenzen für rechtsstaatlich nicht mehr hinnehmbare Strukturen markieren. Und wie etwa das jahrelange Ringen um die Bestandsdatenauskunft zeigt, brüsten sich selbst bei einer krachenden Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Regierungsvertreter gerne damit, dass "ihr Gesetz" doch im Großen und Ganzen von Karlsruhe bestätigt worden sei, ergänzen ihr Regelungskonzept in einem eilig zusammengezimmerten Neuentwurf um einige wortwörtlich aus der Verfassungsgerichtsentscheidung übernommene Formulierungen und das ganze Spiel um ein rechtsstaatliches Sicherheitsrecht beginnt von vorne.
Warum es eine "Überwachungsgesamtrechnung" braucht
Das BVerfG hat allerdings schon in seinen Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung (2010) und zum Bundeskriminalamtgesetz (2016) betont, dass dieser Fehlentwicklung Grenzen gesetzt sind. Karlsruhe hielt eine Totalüberwachung der Bürger mit Blick auf die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes für unzulässig. Diesen Versuch der rechtsstaatlichen Einhegung hat erstmals der Rechtswissenschaftler Alexander Roßnagel als "Überwachungsgesamtrechnung" beschrieben. Um eine unkontrollierte Anhäufung verschiedenster Überwachungsmaßnahmen und eine unzulässige Totalüberwachung der Bürger zu vermeiden, muss der Gesetzgeber das Wechselspiel und die Überschneidungen mit den bereits bestehenden Überwachungsbefugnissen im Blick behalten und Zurückhaltung bei der Einführung neuer Überwachungsmaßnahmen üben.
Diese Überwachungsgesamtrechnung wird häufig als mathematische Universalformel missverstanden und mit wirklichkeitsfremden Erwartungen überfrachtet. Tatsächlich verbergen sich hinter dem Begriff gleich zwei Betrachtungsebenen: eine gesamtgesellschaftliche und eine individuelle. Gesamtgesellschaftlich muss vor dem Erlass neuer Überwachungsbefugnisse vom zuständigen Gesetzgeber überprüft werden, welche Maßnahmen bereits existieren und welche man nach dem Grundsatz "One in, one out" zugunsten neuer Maßnahmen wieder aufheben könnte. Daneben ist für die individuelle Rechtsanwendung im Einzelfall in den Blick zu nehmen, welche Personen oder Personengruppen durch sog. additive Grundrechtseingriffe typischerweise von besonders vielen gleichzeitig durchgeführten Maßnahmen (z.B. Telekommunikationsüberwachung, längerfristige Beobachtung, GPS-Peilsender am Auto, Ausschreibung zur KfZ-Kennzeichenüberwachung oder Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung) unverhältnismäßig betroffen sein können.
Was die Ampelkoalition plant
Diese Idee einer Überwachungsgesamtrechnung hat die Ampelkoalition nun erfreulicherweise aus ihrem "Dornröschenschlaf" erweckt. Der Koalitionsvertrag lässt keinen Zweifel daran, dass sich die neue Bundesregierung zum Ziel gesetzt hat, die Qualität der Gesetzgebung zu verbessern. Zum einen soll der Status quo der Sicherheitsgesetze im Hinblick auf ihre "Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie im Lichte technischer Entwicklungen" einmalig wissenschaftlich evaluiert werden. Zum anderen soll eine Überwachungsgesamtrechnung im Sinne von Grundsätzen für die Gesetzgebung aufgestellt werden, an der sich jeder zukünftige Gesetzgebungsakt messen lassen muss.
Um den Gesetzgeber bei zukünftigen Sicherheitsgesetzgebungsvorhaben zu beraten, wird zudem ein unabhängiges Expertengremium – eine sogenannte "Freiheitskommission" – geschaffen werden. Ein solches Gremium nach dem Vorbild von Monopolkommission, Deutschem Ethikrat oder den "Wirtschaftsweisen" mit Experten aus den Bereichen Justiz, Wissenschaft und Zivilgesellschaft schwebt der FDP schon seit einiger Zeit vor. Darüber hinaus sollen ein "Zentrum für Legistik" eingerichtet und eine stärkere Beteiligung der Öffentlichkeit am Gesetzgebungsverfahren erprobt werden. Zudem will Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Zuständigkeiten für den Nationalen Normenkontrollrat sowie "für bessere Rechtssetzung" vom Bundeskanzleramt auf das Bundesministerium der Justiz übertragen.
Eine Kommentarfunktion für neue Gesetzesvorhaben?
Ohne Zweifel würde es erhebliche praktische Vorteile bieten, die geplante Freiheitskommission frühzeitig auf Ressortebene einzubinden. Zu ihren wesentlichen Aufgaben sollte es gehören, jedes Gesetzgebungsvorhaben, das Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger tangiert, an einer zuvor aufgestellten Überwachungsgesamtrechnung zu messen. Praktisch bedeutet dies, das Gesetzgebungsvorhaben unabhängig und nach zuvor – beispielsweise in einer Geschäftsordnung – festgelegten Standards auf seine Verfassungsmäßigkeit sowie auf seine Vereinbarkeit mit sonstigem Recht zu überprüfen. Das Ergebnis könnte eine sachverständige Stellungnahme mit einer Bewertung des Gesetzgebungsvorhabens und möglichen Änderungs- und Ergänzungsvorschlägen sein, mit der sich der Gesetzgeber dann im weiteren Fortgang des Verfahrens zwingend inhaltlich auseinandersetzen muss.
Eine zwingende frühe inhaltliche Auseinandersetzung mit möglichen Einwänden der Freiheitskommission und die Wahrung der durch sie verbürgten Qualitätsstandards würde zahlreiche Gesetzesvorhaben schon frühzeitig vor verfassungsrechtlichem Schiffbruch und unnötigen rechtspolitischen Streitereien bewahren. Nach wie vor erforderliche Sachverständigenanhörungen könnten sich dann auf zentrale, noch verbliebene Sach- und Streitfragen beschränken. Sofern der Bundesdatenschutzbeauftragte mit Blick auf die Wahrung seiner Unabhängigkeit nicht ohnehin Mitglied der Freiheitskommission wird, sollte zudem seine zwingende Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren sichergestellt werden.
Gleichzeitig könnte der Normenkontrollrat den gesetzlichen Erfüllungsaufwand prüfen. In engem zeitlichem und sachlichem Zusammenhang hierzu ist zudem die Arbeit des Zentrums für Legistik zu sehen. Zu seinen Aufgaben zählt nach dem Koalitionsvertrag neben der Beachtung der Rechtsförmlichkeit vor allem die frühzeitige und ressortübergreifende Diskussion von Gesetzgebungsvorhaben und die bessere Einbindung der Praxis und betroffener Kreise aus der Gesellschaft sowie von Vertreterinnen und Vertretern des Parlaments. Eine innovative Rolle dürfte hierbei die geplante Einführung eines digitalen Gesetzgebungsportals mit öffentlicher Kommentierungsfunktion spielen. Das Zentrum für Legistik könnte die dort geposteten Kommentierungen moderieren und nach Relevanz filtern. Einen Vorschlag, welche Kommentierungen der Öffentlichkeit im weiteren Gesetzgebungsverfahren aufgegriffen werden sollten, könnte es sodann dem federführenden Ministerium als Teil seiner Stellungnahme zuleiten.
Wie auch immer Überwachungsgesamtrechnung, Freiheitskommission, Normenkontrollrat, Datenschutzbeauftragter und Zentrum für Legistik für sich genommen und in ihrem Zusammenspiel zueinander zukünftig konkret ausgestaltet werden – es kann nur besser werden. Dass sich die neue Bundesregierung explizit der Qualitätssicherung im Bereich des Sicherheitsrechts verschrieben hat, ist schon per se als erheblicher Fortschritt für die Rechtspolitik und unser Rechtssystem insgesamt einzustufen. Dass die Bundesinnenministerin nun angekündigt hat, bei der Umsetzung ihres – per se durchaus begrüßenswerten – Aktionsplans gegen Rechtsextremismus die Durchführung einer Überwachungsgesamtrechnung nicht abwarten zu wollen, dürfte allerdings mehr als nur ein Wermutstropfen sein. Es könnte zu einem ersten Belastungstest für eine neue Sicherheitspolitik innerhalb der Koalition werden.
Prof. Dr. Mark A. Zöller ist Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und das Recht der Digitalisierung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dr. Tanja Niedernhuber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin an diesem Lehrstuhl. Sie führen derzeit am Münchner Institut für Digitalisierung und das Recht der Inneren Sicherheit (IDRIS) gemeinsam mit dem Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP) sowie dem Ausschuss Gefahrenabwehrrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) ein Forschungsprojekt zum Thema "Sicherheitsgesetzgebung und Überwachungsgesamtrechnung" durch.
Sicherheitsrecht und Ampelkoalition: . In: Legal Tribune Online, 18.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47878 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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