Nach einer EU-Richtlinie muss Deutschland noch in diesem Jahr Verbandsklagen auf Leistung einführen. Bei der Umsetzung gibt es Freiräume, die im Sinne der Verbraucher oder der Unternehmen genutzt werden können, analysiert Luidger Röckrath.
Eine Person klagt als Repräsentant einer Gruppe – im Erfolgsfall bekommen aber alle Gruppenmitglieder Geld. Solche Sammelklagen (class action) kennt mal seit langem aus den USA. Befürworter verweisen unter anderem darauf, dass Sammelklagen die Gleichgültigkeit des einzelnen Verbrauchers, Kleinstschadensbeträge (sogenannte Streuschäden) geltend zu machen, überwinden könnten. Gegner befürchten, dass durch missbräuchliche Klagen Druck auf Unternehmen ausgeübt werden könnte, sachlich unberechtigte Vergleiche einzugehen.
Sammelklagen nach dem amerikanischen Vorbild sind dem deutschen Recht bisher fremd. Eine EU-Richtlinie verlangt nunmehr von den Mitgliedstaaten die Einführung von Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher (RL (EU) 2020/1828). Die Verbandsklagenrichtlinie muss bis Dezember 2022 in deutsches Recht umgesetzt werden. Die Richtlinie betont das „notwendige Gleichgewicht“ zwischen der Stärkung kollektiver Verbraucherinteressen und dem Schutz der Unternehmen vor missbräuchlichen Klagen, das sich in den konkreten Regelungen widerspiegelt. Die Umsetzung ist der nächste Schritt zur Fortentwicklung des kollektiven Rechtsschutzes in Deutschland in einem Umfeld, das sich seit Einführung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG) im Jahr 2005 durch Marktentwicklungen (legal tech, spezialisierte Anwälte und Dienstleister etc.) deutlich verändert hat.
Bisher keine Sammelklagen auf Leistung möglich
Die Einführung des Musterverfahrens im Kapitalmarktrecht war die gesetzgeberische Reaktion auf Klagen von tausenden Aktionären der Deutschen Telekom. Die Praxistauglichkeit ist umstritten. So dauert das Musterverfahren gegen die Deutsche Telekom bereits fast 15 Jahre. Die Dieselklagen gegen VW waren im Jahr 2018 Auslöser für die Einführung der Musterfeststellungsklage (§§ 606 ff. ZPO). Eine Musterfeststellungsklage gegen VW, der sich zahlreiche Käufer von Dieselfahrzeugen anschlossen, mündete relativ rasch in ein Vergleichsangebot. Bis Januar 2022 wurden 23 Musterfeststellungsklagen anhängig gemacht (etwa die Hälfte zu Prämiensparverträgen).
Diese bisherigen Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes ermöglichen nur rechtlich verbindliche Feststellungen, aber keine Klage direkt auf Leistung. Solche Sammelklagen werden jedoch schon seit Jahren durch Abtretungsmodelle simuliert: Ein Unternehmen sammelt Ansprüche von Verbrauchern und klagt die abgetretenen Rechte dann im eigenen Namen ein. Ein Anteil der im Erfolgsfall erlangten Summe verbleibt dann beim Unternehmen. Die Zulässigkeit dieses Vorgehens ist insbesondere vor dem Hintergrund des Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) heftig umstritten. Die Instanzgerichte zeigten sich hier bislang häufig kritisch. Der Bundesgerichtshof hat hingegen in zwei Einzelfällen (Lexfox und Airdeal) das jeweilige Geschäftsmodell als von den Vorgaben des RDG gedeckt angesehen. Alle Zweifelsfragen sind jedoch noch nicht geklärt. Insbesondere müssen sich die Instanzgerichte noch mit zahlreichen Sammelklagen nach dem Abtretungsmodell in Kartellschadenersatzfällen beschäftigen und halten diese teilweise auch nach Airdeal für unzulässig (vgl. jüngst LG Stuttgart in Sachen Rundholzkartell). Massenhafte Einzelklagen (z.B. jüngst nach dem Zusammenbruch von Wirecard) bereiten der Justiz ebenso große Probleme, weil letztlich die Prüfung jedes einzelnen Anspruchs erforderlich ist.
Gutachten zeigen große Spielräume des Gesetzgebers
Die Verbandsklagenrichtlinie zwingt den deutschen Gesetzgeber nunmehr zur Einführung einer auf Leistung oder sonstigen Abhilfe gerichteten Verbandsklage (d.h. Schadenersatz, Reparatur, Ersatzleistung, Preisminderung, Vertragsauflösung oder Erstattung des gezahlten Preises). Die Richtlinie gibt nur einen Mindeststandard vor, weitergehende Regelungen sind also möglich. Wie dieser Umsetzungsspielraum ausgefüllt werden soll, wurde bisher überwiegend wissenschaftlich diskutiert. Zwei Professorengutachten (Gsell und Meller-Hannich für den Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) und Bruns im Auftrag verschiedener Wirtschaftsverbände) zeigen die Spannbreite der rechtspolitischen Erwartungen an die Umsetzung der Verbandsklagenrichtlinie auf. Im Koalitionsvertrag wird dieses Projekt erwähnt. Die Umsetzung wirft jedoch zahlreiche schwierige Fragen auf.
Muss der Verbraucher selbst aktiv werden (Opt-in) oder ist er automatisch beteiligt (Opt-out)?
Die systemprägende Strukturfrage ist die Entscheidung zwischen einem Opt-in oder Opt-out Modell. Die US-amerikanische class action kennzeichnet das Opt-out-System. Ein Repräsentant einer nach abstrakten Kriterien umschriebenen Gruppe von Betroffenen führt die class action mit Wirkung für diese, es sei denn sie erklären ihren Opt-out. Die class action gilt neben Strafschadensersatz (punitive damages), Laienjury, discovery und Erfolgsbeteiligung der Klägeranwälte als ein zentrales Element der US-amerikanischen Rechtskultur, dessen Übernahme traditionell abgelehnt wird. Diese Bedenken spiegeln sich in der Verbandsklagenrichtlinie wider, die den Schutz vor missbräuchlichen Klagen u.a. durch den Ausschluss von Strafschadensersatz und Beschränkung der Klagebefugnis auf qualifizierte Einrichtungen und Regeln zu deren Finanzierung verfolgt. Die Richtlinie lässt Opt-out-Klagen zu, lediglich für grenzüberschreitende Verbandsklagen wird ein Opt-in-Modell verbindlich vorgeschrieben.
Beide Gutachten gehen zwar von einem Opt-in Modell aus, aber mit wichtigen Unterschieden in der konkreten Umsetzung. Das Gutachten von Gsell/Meller-Hannich befürwortet einen späten Opt-in, auch noch nach einem Vergleich oder Urteil. Verbraucher könnten so abwarten, ob ihnen das Ergebnis zusagt und sich dann erst anschließen. Der Vorschlag von Bruns fordert hingegen ein frühes Opt-in. Letzteres entspricht dem Modell der Musterfeststellungsklage, dort ist ein Opt-in nur bis zur ersten mündlichen Verhandlung möglich. Verliert der Verband die Klage, ist der Verbraucher, der den Opt-in erklärt hat, auch an dieses Ergebnis gebunden. Ein früher Opt-in macht den Umfang der Gesamtschadenssumme für die Beklagtenseite vorhersehbarer und erleichtert vergleichsweise Lösungen. Bei einem frühen Opt-in kann die Zulässigkeit der Klage von einer Mindestzahl (hier werden 500 bis 1.000 genannt) von hineinoptierenden Verbrauchern abhängig gemacht werden. Der Gegenvorschlag will dagegen die Betroffenheit von mindestens 10 Verbrauchern ausreichen lassen, die zunächst keinen Opt-in erklären müssen.
Die Entscheidung hat weitreichende Folgen: Der späte Opt-in kombiniert mit einer umfassenden Verjährungshemmung, ohne dass der Verbraucher aktiv werden müsste, dürfte zu einer erheblichen Erhöhung des von Unternehmen zu erstattenden Schadensvolumens führen. Wenn eine Verbandsklage erfolgreich war und die individuellen Ansprüche noch nicht verjährt sind, werden mehr Verbraucher die Abhilfeleistung in Anspruch nehmen können. Der Verbraucher kann ohne Risiko abwarten, was sich aus der Verbandsklage ergibt. Gleichzeitig werden Vergleichslösungen erschwert, da die finanzielle Gesamtbelastung für das beklagte Unternehmen kaum abschätzbar ist. Die Kombination von frühem Opt-in und der Verjährungshemmung nur zugunsten der Verbraucher, die davon Gebrauch gemacht haben entsprechend der aktuellen Regelung für die Musterfeststellungsklage, ermöglicht hingegen die Abhilfefondslösungen, wie sie das Gutachten Bruns vorschlägt. Ob das mit der Richtlinie vereinbar wäre, ist allerdings streitig.
Verbandsklage auch bei Rechtsverstößen ohne EU-Bezug?
Nach der EU-Richtlinie muss das Verbandsklageverfahren nur bei Verletzung von bestimmten Verbraucherschutzbestimmungen des EU-Rechts (einschließlich der nationalen Umsetzungsnormen) zur Verfügung stehen. Das Gutachten von Gsell/Meller-Hannich schlägt vor, dass jede beliebige nationale Vorschrift Gegenstand eines Verbandsklageverfahrens sein kann. Zur Begründung wird insbesondere auf die Dieselfälle verwiesen, in denen die Haftung des Herstellers deliktisch begründet wurde. Eine Erweiterung auf alle Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmen würde Abgrenzungsschwierigkeiten vermeiden.
Wie kommt der Verbraucher an das Geld?
Der Sinn der Verbandsklage kann nur erfüllt werden, wenn der Verbraucher tatsächlich auch die Abhilfe erhält, also etwa den ihm zustehenden Schadensersatz. Wir dies realisiert werden kann, ist rechtstechnisch indes die größte Herausforderung. Die Richtlinie gibt in Art. 9 Abs. 6 vor, dass dafür – anders als bei der Musterfeststellungsklage – keine gesonderte Klage des Verbrauchers gefordert werden darf. Nach dem Gutachten von Gsell/Meller-Hannich soll ein unabhängiger Treuhänder die individuelle Anspruchsberechtigung prüfen. Sieht er diese als gegeben an, wird allein durch die Entscheidung des Treuhänders zugunsten des Verbrauchers ein Vollstreckungstitel geschaffen. Die Klagelast, dagegen gegebenenfalls vorzugehen, liegt dann bei der Partei, die mit der Entscheidung des Treuhänders nicht einverstanden ist. Nach dem Gutachten Bruns sollen Unternehmen zur Zahlung in einen Abhilfefonds verpflichtet werden. Die Verteilung soll dann nach dem Modell des Seerechtliches Verteilungsverfahrens stattfinden, eine Materie, die auch den wenigsten Juristen geläufig sein dürfte.
Die verbleibende Zeit gut nutzen
Neben den angesprochenen Fragen wirft die Umsetzung der Richtlinie zahlreiche weitere Fragen auf (z.B. Zuständigkeit der Oberlandesgerichte, Kostentragung, Klagebefugnis, Streitwert, Offenlegung von Beweismitteln). Nach dem Koalitionsvertrag soll sogar kleinen Unternehmen die Klagemöglichkeit (der Verbandsklage) eröffnet werden. Insoweit würde der deutsche Gesetzgeber deutlich über das hinausgehen, was die Richtlinie erfordert. Die Umsetzung der Verbandsklagenrichtlinie stellt den Gesetzgeber also nicht nur vor schwierige rechtspolitische Entscheidungen, sondern ist auch in technischer Hinsicht ein anspruchsvolles Projekt. Insbesondere die Frage, wie der einzelne Verbraucher in den Genuss der Abhilfeleistung kommt, bedarf einer detaillierten und ausgereiften Regelung, die auch in der Praxis besteht. Es ist zu wünschen, dass bald ein erster Referentenentwurf vorliegt, der von Wissenschaft und Praxis intensiv diskutiert werden kann, damit die Richtlinie rechtzeitig und praxistauglich und unter angemessener Berücksichtigung der Interessen der Verbraucher und der Unternehmen umgesetzt werden kann.
Dr. Luidger Röckrath, LL.M. (Berkeley) ist Rechtsanwalt und Partner bei Gleiss Lutz in München. Er ist insbesondere im Bereich der Prozessführung tätig.
EU Richtlinie verlangt besseren Verbraucherschutz: . In: Legal Tribune Online, 31.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47371 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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