Am Dienstag schoss das türkische Militär einen russischen Kampfbomber im Grenzgebiet zu Syrien ab. Hans-Joachim Heintze kann keine völkerrechtliche Legitimation für das Vorgehen der Türkei erkennen.
LTO: Am Dienstag schossen Kampfflugzeuge des türkischen Militärs einen russischen Kampfbomber Typ Su-24 an der syrisch-türkischen Grenze ab, der die gegen den syrischen Machthaber Assad kämpfenden Milizen bombardieren sollte. Fest steht wohl zumindest, dass der Flieger für 17 Sekunden ohne Erlaubnis über dem türkischen Luftraum flog. Auf welches Recht beruft sich die Türkei, wenn sie die Maßnahme rechtfertigt?
Heintze: Die Türkei beruft sich auf Art. 2 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) und den in Abs. 1 festgehaltenen Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Mitglieder der UN, der auch die territoriale Unversehrtheit der Staaten schützt.
Daraus folgt auch, dass jedes Flugzeug, das über den Luftraum eines anderen Landes fliegt, hierfür eine Genehmigung des Staates braucht, zu dessen Gebiet der Raum gehört. Bei der zivilen Luftfahrt ist dies durch die Luftverkehrsabkommen, insbesondere das Chicagoer Abkommen über den Luftverkehr, geregelt.
Anders bei militärischen Flugzeugen – die brauchen eine gesonderte Genehmigung. Russland hat also die territoriale Integrität des türkischen Staatsgebiets verletzt, indem dessen Flieger kurz über die Grenze flog.
"Jeder Staat muss die Verhältnismäßigkeit beachten"
LTO: War denn der Abschuss legitimiert, wenn - wie die Türkei behauptet - das Flugzeug tatsächlich vorher gewarnt und während des 17-sekündigen Fluges über türkischem Luftraum getroffen wurde?
Heintze: Grundsätzlich hat jeder Staat hat das Recht, sein Gebiet und seinen Luftraum zu schützen und sich mit allen Mitteln gegen Verletzungen zu wehren. Wichtig ist aber immer, dass die Maßnahmen die Verhältnismäßigkeit wahren. In diesem Fall sprechen alle Anhaltspunkte dafür, dass der Abschuss eine grotesk unverhältnismäßige Reaktion war.
Zwar ist bei Kampfflugzeugen eine militärische Reaktion – anders als bei der zivilen Luftfahrt – grundsätzlich möglich. Doch auch dann ist die tatsächliche Bedrohung der Maßstab für die Zulässigkeit der Abwehrmaßnahme. Man muss vorher einschätzen, ob Gefahr von ihm ausgeht – hier gab es dafür keine Anhaltpunkte. Befindet sich der Flieger tief im Landesinnern, ist die Gefahr prinzipiell als höher einzuschätzen als im Randgebiet, wo der Grenzüberflug auch ein bloßes Versehen sein kann.
Es müssen zudem alle technischen Möglichkeiten eingesetzt werden müssen, um die Herkunft, die Nationalität und die Absicht des Flugzeugs zu ermitteln. Solange es keine Anzeichen gibt, dass Waffen eingesetzt werden, ist auch der vorherige Versuch der Kontaktaufnahme über eine Notruffrequenz zwingend notwendig, um genau diese Aspekte zu erfragen und ggf. durch Warnungen eine Kursänderung herbeizuführen. Erst, wenn das nicht hilft, kann man es zum Abdrehen oder zur Landung zwingen. Und nur als Ultima Ratio darf schließlich das nationale Militär den eindringenden Flieger abschießen.
Hier spricht der kurze Zeitraum dagegen, dass eine Kommunikation zwischen türkischem Militär und den Piloten stattgefunden hat und eine Identifizierung des Bombers überhaupt möglich war. Dem entspricht ja auch Erdogans Aussage, man habe nicht gewusst, ob es sich um eine russische oder eine syrische Maschine handelte. Die Anhaltspunkte sprachen allerdings dafür, dass es sich um eine russische Maschine handelte, da deren Flugzeuge weitaus moderner sind als die syrischen und zudem Registriernummern und Hoheitsabzeichen an der Außenhaut tragen.
"Bereits zwei syrische Maschinen abgeschossen"
LTO: Ist die Unterscheidung zwischen syrischen und russischen Fliegern überhaupt relevant?
Heintze: Rechtlich gesehen wäre das tatsächlich nicht relevant gewesen, allenfalls politisch. Bislang gab es keine Angriffe Assads auf die Türkei, sodass auch seine Militärflugzeuge keine Bedrohung für die Türkei darstellen. Syrien wird die Türkei auch nicht angreifen, denn die Türkei hat die zweitgrößte Armee unter den Nato-Staaten.
Allerdings wurden bereits mindestens zwei syrische Flugzeuge über türkischem Luftraum abgeschossen. Der Unterschied zu diesem Fall war aber, dass diese sich tief im Landesinnern befanden – offensichtlich waren die Piloten in den Kampfhandlungen durcheinandergeraten und hatten sich verflogen. Möglicherweise fehlte ihnen technisches Gerät zur Orientierung oder aber sie waren einfach verwirrt und haben nicht auf vorherige Warnungen reagiert.
Anne-Christine Herr, Abschuss des russischen Kampfjets aus völkerrechtlicher Sicht: . In: Legal Tribune Online, 27.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17695 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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