Zum 70. Geburtstag des BVerfG hat Dieter Grimm einige seiner Veröffentlichungen in einem Sammelband gebündelt. Angesichts des politischen Drucks auf Verfassungsgerichte ist das Thema hochaktuell, finden Pia Lange und Sebastian Hapka.
Pünktlich zum 70. Geburtstag des höchsten deutschen Gerichts hat Dieter Grimm, ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), einen Sammelband veröffentlicht, der 17 seiner Arbeiten zur Verfassungsgerichtsbarkeit bündelt. Die Beiträge setzen sich teilweise in grundsätzlicher Weise, teilweise aus konkretem Anlass mit dem Themenkomplex der Verfassungsgerichtsbarkeit auseinander.
Die Beiträge sind in über 40 Jahren entstanden und decken damit einen weiten Zeitraum ab. Die weit überwiegende Anzahl der Veröffentlichungen stammt allerdings aus der Zeit nach dem Jahr 2000 – Grimms Amtszeit am BVerfG dauerte von 1987 bis 1999. Seine am Verfassungsgericht gesammelten Erfahrungen konnten deshalb – bis auf wenige Ausnahmen – in die unter Überschriften wie "Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie", "Verfassungsrechtsprechung: Recht oder Politik", "Der Vorgang: Verfassungsinterpretation", "Europa: Gerichtskonkurrenzen" und "Gegner" zusammengefassten Arbeiten einfließen.
Zugleich zeichnen sich die Beiträge oftmals durch die Heranziehung rechtsvergleichender Elemente aus, welche die herausragende Stellung des BVerfG im deutschen Regierungssystem betonen. Das BVerfG ist durch das Grundgesetz mit einer beispiellosen Kompetenz- und Machtfülle ausgestattet – zu Recht bezeichnet Grimm es als "folgenreichste Innovation des Grundgesetzes" (S. 8).
Die Veröffentlichung des Sammelbandes fällt in eine Zeit, in der Verfassungsgerichte und ihre Unabhängigkeit weltweit zunehmend unter politischen Druck geraten. Amtszeiten von Richtern und Richterinnen werden verkürzt und die Kompetenzen von Verfassungsgerichten beschnitten. Das Themenfeld erfährt damit eine, wenngleich unerfreuliche, Aktualität.
Plädoyer für die Verfassungsgerichtsbarkeit
Die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit findet – unabhängig von ihrer Ausgestaltung als diffus oder spezialisiert – in Dieter Grimm einen starken Fürsprecher. Obwohl für ihn Verfassungen auch ohne Verfassungsgerichtsbarkeit denkbar erscheinen, ist es seiner Meinung nach diese, die "in vielen Ländern der Erde den Verfassungen erst Relevanz verliehen hat" (S. 8). Die "Errungenschaft" (S. 9) der Verfassungsgerichtsbarkeit, die eine "wirkungsvolle[re] Antwort auf die Gefährdung der Verfassung (S. 374) liefert, gelte es zu bewahren.
Mit Sorge betrachtet Grimm daher, dass sich die Verfassungsgerichtsbarkeit in vielen Ländern nicht nur politischen Angriffen, sondern – vorrangig in den USA – zunehmend auch fundamentaler (rechts-)wissenschaftlicher Kritik ausgesetzt sieht. Unter Berufung auf "the people themselves" zielen die Kritikerinnen und Kritiker auf die vollständige Abschaffung der richterlichen Normenkontrolle oder zumindest der Verfassungsgerichtsbarkeit als Hüterin der Verfassung ab.
Die vollständige Infragestellung der Verfassungsgerichtsbarkeit unter Berufung auf demokratietheoretische Überlegungen erscheint aus verschiedenen Gründen gefährlich: Zum einen sollen so nicht etwa plebiszitäre Elemente gestärkt werden, sondern die Verfassungssicherung soll dem Parlament bzw. der Regierung anvertraut werden. Indes hatte schon Kelsen das Parlament als unbrauchbares Mittel der Verfassungssicherung verworfen (S. 128). Die Verfassung als solche wäre somit gefährdet.
Zum anderen spielt die Kritik auch den populistischen Regierungen in die Hand, welche die Demontage der Verfassungsgerichte nunmehr mit wissenschaftlichen Argumenten untermauern können (S. 398).
Das Demokratieproblem der Verfassungsgerichtsbarkeit
Dies bedeutet indes nicht, dass Grimm die Gefahren einer ausufernden Verfassungsgerichtsbarkeit für die konstitutionelle Demokratie leugnet. Das Gegenteil ist der Fall: Er betont, dass Verfassungsgerichte durch die Weite und Auslegungsbedürftigkeit der Verfassung permanent Gefahr laufen, in den Funktionsbereich des Gesetzgebers überzugreifen. Seine Beiträge betrachten zudem, wie sich diese Gefahr einer zunehmenden Juridifizierung einhegen lässt.
Das eigentliche demokratische Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt indes nicht darin, dass ein nicht unmittelbar vom Volk gewähltes Organ das Handeln der Volksvertretung am Maßstab der Verfassung misst. Vielmehr ist es in der zwangsläufig unvollständigen Determination richterlicher Entscheidungsfindung durch die Verfassung begründet. Das hat Dieter Grimm schon 1976 in seinem Beitrag "Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System" (S. 37 ff.) grundlegend aufgearbeitet.
Auflösen ließe sich dieses Problem nur durch einen vollständigen Verzicht auf die Verfassungsgerichtsbarkeit (S. 385). Es kann indes durch eine strikte Wahrung der Funktionsgrenzen zwischen den Staatsorganen entschärft werden.
Wie dadurch ein Übergreifen der Verfassungsgerichtsbarkeit in den Bereich der Politik und damit letztlich die Trennung von Recht und Politik bei der Verfassungsinterpretation verhindert werden kann, hat Grimm in zahlreichen Publikationen thematisiert. Die in dem Sammelband im Zusammenhang veröffentlichten Beiträge vermögen die unter diesen Voraussetzungen demokratieverstärkende Wirkung der Verfassungsgerichtsbarkeit erneut zu verdeutlichen.
Europa ja, aber welches?
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) stellt nach Grimm hingegen einen spezifischen Ausdruck des Demokratiedefizits der Europäischen Union (EU) dar. Während sich nationale Verfassungsgerichte durch demokratische Prozesse einhegen lassen, besteht ein entsprechendes Korrektiv, das einer entgrenzenden Interpretation unionsrechtlicher Vorschriften durch den EuGH entgegentreten könnte, auf Unionsebene nicht (S. 335).
Darin liegt zum einen "[d]as Besondere an der EU" (S. 333) und andererseits eine Gefahr für die europäische Demokratie selbst. Die EU bezieht ihre demokratische Legitimation zu großen Teilen aus den nationalen Demokratien, deren Strukturen wiederum durch eine ausufernde Auslegung der Verträge durch den EuGH gefährdet werden. Wenn also die nationalen Verfassungsgerichte in Konkurrenz zum EuGH treten, indem sie Integrationsvorbehalte aus den nationalen Verfassungen in Stellung bringen, entsprechen sie ihrer Rolle in der europäischen Demokratie: "[D]ie Verfassungsgerichte [sind] die einzigen Institutionen, die ein Gegengewicht gegen die demokratiemindernden Mechanismen bilden, welche in der EU am Werk sind" (S. 344).
Doch was passiert, wenn der politische Druck auf diese Strukturen innerhalb der Mitgliedstaaten zu groß wird? Es ist nicht zuletzt die Unabhängigkeit nationaler Verfassungsgerichte, die aufgrund zunehmender politischer Einflussnahme vereinzelt in Frage gestellt wird.
Angesichts dieser Entwicklungen hätte man sich als Leserin oder Leser gerne noch Vorschläge eines der bedeutendsten Staatsrechtler der Gegenwart gewünscht, wie die EU und die Mitgliedstaaten auf diese Entwicklungen reagieren und welche Rolle die Verfassungsgerichtsbarkeit dabei spielen könnte. Für einen solchen Beitrag bleibt indes auch nach dem 70. Geburtstag des BVerfG noch Zeit.
Die Autorin Dr. Pia Lange, LL.M. (UTC) ist Habilitandin und Akademische Rätin a. Z. an der Georg-August-Universität Göttingen und hat derzeit eine Vertretungsprofessur für Öffentliches Recht an der Universität Bremen inne. Der Autor Sebastian Hapka ist Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Europäisches Umweltrecht an der Universität Bremen.
Das Buch: Dieter Grimm: Verfassungsgerichtsbarkeit, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 408 S., € 24,00.
Rezension zu Dieter Grimms "Verfassungsgerichtsbarkeit": . In: Legal Tribune Online, 21.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46070 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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