Eigentlich hatte das BVerfG die Abgeordneten verpflichtet, bis zum 30. Juni 2011 ein neues, verfassungsgemäßes Bundeswahlgesetz vorzulegen. Weil die Parteien immer noch uneins sind, wird die Frist allerdings nicht eingehalten werden können. Sebastian Roßner über die möglichen Folgen dieser Säumigkeit, die wohl weniger gravierend sein werden als derzeit befürchtet.
Das aktuelle Bundeswahlgesetz (BWG) ist in Teilen verfassungswidrig. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits am 3. Juli 2008 festgestellt (Az. 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07). Grund für dieses Verdikt war das so genannte negative Stimmgewicht - ein Effekt, der bewirkt, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Mandaten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Gewinn an Mandaten führt.
Es handelt sich dabei um eine Paradoxie des BWG, die im Zusammenhang mit Überhangmandaten bei der Verteilung von Sitzen auf die verbundenen Landeslisten einer Partei nach § 7 Abs. 3 mit § 6 Abs. 4 und Abs. 5 BWG auftreten kann. Die Karlsruher Richter sahen darin einen Verstoß gegen die von Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz (GG) garantierten Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl. Sie setzten dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 30. Juni 2011, um eine neue, verfassungsgemäße Regelung zu erlassen.
Diese Fristsetzung hatte sogar zur Folge, dass die letzte Bundestagswahl am 27. September 2009 nach dem alten, teilweise verfassungswidrigen Wahlrecht stattfand. Wegen der tiefgreifenden Änderungen, die für eine Korrektur nötig sind, wollten die Richter in Karlsruhe den Gesetzgeber nicht unter zu starken Zeitdruck setzen. Nun aber droht auch die großzügig bemessene Frist ungenutzt zu verstreichen.
Parteien streiten über Umgang mit Überhangmandaten
Hauptsächlicher Grund für die Saumseligkeit des Gesetzgebers ist die Uneinigkeit innerhalb der schwarz-gelben Koalition: Während die FDP ein Sitzverteilungsverfahren anstrebt, das für kleine Parteien günstig ist, kommt es der Union auf die Beibehaltung der Überhangmandate ohne Ausgleich an.
Diese treten auf, wenn einer Partei nach dem Proporz der Zweitstimmen weniger Mandate zustehen, als sie über die Erststimmen an Direktmandaten gewonnen hat. Nach gegenwärtigem Recht verbleiben der Partei die "überhängenden Mandate", ohne dass die anderen Parteien Ausgleichsmandate erhielten, die eine Sitzverteilung nach den Anteilen der gewonnenen Zweitstimmen wiederherstellen würde.
Während sich die koalitionsinternen Querelen wahrscheinlich werden bereinigen lassen, sind die Differenzen mit der Opposition tiefergehend: Zwar unterscheiden sich auch die Vorstellungen von SPD, Grünen und Linken in einer Reihe wichtiger Einzelfragen. Einig sind sich die Abgeordneten auf den Oppositionsbänken aber in der Ablehnung der ausgleichslosen Überhangmandate.
Auch wenn das BWG mit einfacher Mehrheit geändert werden kann, gilt eine möglichst breite Mehrheit für die Neuregelung als erstrebenswert, um Kontinuität und breite Akzeptanz des Wahlrechts zu gewährleisten. Für einen Konsens, der auch Teile der Opposition einschließt, müsste wohl noch intensiv verhandelt werden.
Unwahrscheinlich: Neuwahlen vor Erlass einer Neuregelung
Wenn, wie bereits absehbar, das neue Wahlrecht nicht rechtzeitig fertig wird, ergeben sich verschiedene Szenarien für die möglichen Folgen. Der worst case: Es kommt zu Neuwahlen, bevor eine neue Regelung geschaffen wird. Dieser Fall ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Denn die nächsten regulären Bundestagswahlen finden zwar erst 2013 statt, allerdings könnte es zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Ohne Neuregelung würden diese Wahlen auf Grundlage des alten Rechts stattfinden, das vom BVerfG für verfassungswidrig erachtet, aber nicht für nichtig erklärt worden ist.
Würde gegen das Wahlergebnis dann Wahlprüfungsbeschwerde erhoben, müssten die Karlsruher Richter die Bundestagswahl eigentlich für ungültig erklären, da die Mandatsverteilung auf einer verfassungswidrigen Norm beruhen und der Fehler daher die gesamte Wahl und nicht nur einzelne Mandate betreffen würde.
Dabei lassen sich die verfassungsrechtlichen Folgen einer solchen Bundestagsauflösung kaum abschätzen. Mit der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages endet nach Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG der alte Bundestag. Eine Annullierung der Wahl würde aber auch den neuen Bundestag auflösen. Damit stünde kein Gesetzgebungsorgan mehr zur Verfügung, um ein neues, verfassungskonformes Wahlrechts zu schaffen.
Ein Ausweg bestünde eventuell darin, mit der Wahl auch die Konstituierung des neuen Bundestages "ex tunc", das heißt von Anfang an für unwirksam zu erklären, so dass der alte Bundestag jedenfalls bis zur Neuregelung des BWG fortbesteht. Aber diese Fragen sind verfassungsrechtlich ungeklärt.
BVerfG könnte selbst aktiv werden
Im zweiten Szenario zieht das BVerfG die Notbremse: Um die Gefahr des vorherigen Szenarios abzuwenden, könnte das Gericht von sich aus eine Übergangsregelung schaffen, auf deren Grundlage ein neuer Bundestag gewählt würde.
Eine denkbare Handhabe bestünde in § 35 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG). Danach kann das Gericht Regelungen treffen zur Vollstreckung seiner Entscheidungen, hier also derjenigen zum negativen Stimmgewicht. Ein anderer verfassungsprozessualer Ansatzpunkt wäre § 32 BVerfGG. Diese Norm ermächtigt zum Erlass einstweiliger Anordnungen, wenn wichtige Gründe des Gemeinwohls dies dringend gebieten.
Abgesehen von den verfassungsprozessualen Schwierigkeiten – weder § 35 noch § 32 BVerfGG passen so recht – wäre diese Lösung unter Gesichtspunkten der Demokratie höchst problematisch: Gesetze zu machen ist generell das vornehmste Recht einer Volksvertretung. Dies gilt insbesondere für das Wahlgesetz, das die wichtigste Spielregel der Demokratie formuliert.
Dabei räumt die Verfassung räumt dem Gesetzgeber einen weiten Spielraum für die Ausgestaltung ein, wie das BVerfG stets betont. Noch in der erwähnten Entscheidung zum negativen Stimmgewicht haben es die Richter daher ausdrücklich von sich gewiesen, selbst eine Übergangsregelung zu schaffen.
Vermutlich droht (nur) eine politische Blamage
Denkbar ist auch, dass eine politische Partei ein Organstreitverfahren gegen den Bundestag anstrengt. Sie könnte dies eventuell auf die Behauptung stützen, dass sie durch die Unterlassung einer Neuregelung in ihrem Recht aus Art. 21 Abs. 1 GG auf Mitwirkung an der politischen Willensbildung verletzt ist, hier in der Form der Teilnahme an verfassungsgemäßen Wahlen.
Allerdings ist fraglich, ob die betreffende Partei antragsbefugt wäre. Es stünden nämlich keine Bundestagswahlen bevor, die bereits konkrete Vorbereitungen auf die Wahl erforderlich machen und die Rechtsverletzung aktualisieren würden.
Im Übrigen würde ein erfolgreiches Verfahren im Urteil auch lediglich zu der Feststellung führen, dass die Partei in ihren verfassungsrechtlichen Rechten verletzt wurde. Ein wesentlicher Fortschritt gegenüber der bereits bestehenden Lage ließe sich damit nicht erzielen. Immerhin könnte das BVerfG ein solches Urteil mit dem Erlass einer Übergangsregelung verbinden.
Auch wahlberechtigte Bürger könnten versuchen, vor das BVerfG ziehen, dann aber mittels einer Verfassungsbeschwerde. Eine Beschwerde unmittelbar gegen das gegenwärtige BWG wäre allerdings bereits nach § 93 Abs. 3 BVerfGG verfristet, da das Gesetz bereits länger als ein Jahr in Kraft ist. Es kommt daher nur eine Verfassungsbeschwerde gegen Maßnahmen der Wahlorgane in Betracht, die sich auf das BWG stützen.
Dafür müssten zunächst Bundestagswahlen anstehen und die Wahlvorbereitungen bereits begonnen haben. Für die Anfechtung von Maßnahmen nach dem BWG schließt § 49 BWG jedoch die Verfassungsbeschwerde zugunsten des Wahlprüfungsverfahrens aus, das erst nach erfolgter Wahl stattfindet.
Am wahrscheinlichsten ist allerdings, dass das Versäumnis folgenlos bleibt - wenn nämlich der Bundestag das BWG rechtzeitig vor den nächsten Wahlen neufasst. Damit hätte sich zwar die Politik, inbesondere die Regierungsfraktionen, blamiert, rechtliche Folgen entstünden aber nicht.
Auch wenn die aktuell diskutierten Befürchtungen damit aller Voraussicht nach nicht wahr werden, hinterlässt doch die Nonchalance, mit der der Gesetzgeber seinen verfassungsrechtlichen Aufgaben nachkommt, ein schlechtes Gefühl. Dabei ist der politische Kern des Problems mehr als brisant: Es handelt sich um zentrale Weichenstellungen für die politische Machtverteilung und die Demokratie. Insofern geht Qualität vor Geschwindigkeit bei einer Neuregelung, auch wenn das Wahlrecht auch in Zukunft ein Zankapfel der politischen Parteien bleiben wird.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinreich-Heine-Universität Düsseldorf.
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Sebastian Roßner, Reform des Wahlrechts: . In: Legal Tribune Online, 06.06.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3434 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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