Im Rahmen eines Rechtsinformationsprojekts verbrachte Jonas Hein einen Monat auf der griechischen Insel Samos. Dort verstößt die EU Tag für Tag gegen Menschenrechte, u. a. weil Asylverfahren faktisch Haft bedeuteten, meint der Rechtsanwalt.
An der Uferpromenade von Vathy auf Samos, einer griechischen Insel entlang der türkischen Grenze, herrscht um 10 Uhr reger Betrieb. Von hier überblickt man den kleinen Hafen des malerischen Städtchens. Am Horizont rollen die Hänge des 1.153 Meter hohen Karvounis hinab in das Ägäische Meer.
Das Straßenbild wird geprägt durch heimische Flaneure - und viele Flüchtlinge, die hier auf der Insel gestrandet sind. Die Promenade ist für sie ein besonderer Ort der Ruhe und Normalität. Hier entstehen unzählige Selfies. Sie sollen als Whatsapp-Profilbilder Freunde und Familie zu Hause beruhigen. Alles ist gut, das Ziel und ein neues Leben sind erreicht.
Allein, die Realität ist eine andere. Der Fußweg zurück zum selbstgekauften Zehn-Euro-Zelt im Dreck des Flüchtlingslagers ist nicht weit. Dort sind Flüchtlinge bei den nun sinkenden Temperaturen Zuständen ausgesetzt, die das UN Flüchtlingswerk noch im November als "abscheulich" bezeichnet hatte. Um die humanitäre Krise – auch auf den anderen griechischen Inseln – zu verstehen, muss man den rechtlichen Hintergrund kennen.
Der EU-Türkei-Deal ist fragwürdig
Zum Einen vereinbarte die EU mit der Türkei im März 2016 eine Reihe von Maßnahmen zur Steuerung der Migrationsströme auf die griechischen Inseln. Es handele sich um temporäre Ausnahmemaßnahmen zur "Beendigung des menschlichen Leids und Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung." In der Vereinbarung, welche lediglich in Form einer Pressemitteilung veröffentlich wurde, heißt es unter anderem, dass "irreguläre Migranten" in Übereinstimmung mit EU- und Völkerrecht in die Türkei rücküberführt werden.
Damit wirft die Vereinbarung vor allem die Frage eines Verstoßes gegen das grundlegende Non-refoulement-Prinzip (Nichtzurückweisung) des Völkergewohnheitsrechts auf. Denn Berichte von erzwungenen Deportationen von Syrern durch die Türkei häufen sich. In der Praxis wird die Vereinbarung durch die griechischen Behörden so umgesetzt, dass vor allem die Anträge von pakistanischen und syrischen Antragstellern nach dem sogenannten sicheren Drittstaatsprinzip für unzulässig erklärt werden.
Zudem patrouillieren seit März 2016 türkische Grenzschutzboote vor der türkischen Küste und verhaften einen Großteil der Menschen, die versuchen, auf Booten überzusetzen. Viele Flüchtlinge berichten, dass sie in der Türkei sodann verhaftet wurden und Folter, Diskriminierungen und Rückschiebeandrohungen ausgesetzt waren.
Während des Asylverfahrens in De-facto-Haft
Zum Anderen hat Griechenland das maßgebliche Asylverfahrensgesetz durch ein besonderes Verfahren ergänzt, welches auf den ägäischen Inseln Anwendung findet. Für diejenigen, die die griechischen Inseln erreichen, gilt deshalb das sogenannte Fast-track-Grenzverfahren. Das Gesetz sieht dabei eine Bewegungssperre vor:
In einer Art Verwaltungshaft dürfen Neuankömmlinge die Inseln nicht verlassen, bis abschließend über ihren Asylantrag befunden wurde. Entsprechend einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2013 muss ihnen in dieser Zeit adäquate Unterkunft, medizinische Versorgung, Zugang zu Bildung und Arbeit ermöglicht werden. Zugleich soll ein sogenanntes beschleunigtes Verfahren stattfinden: Innerhalb von maximal zwei Wochen soll das Asylverfahren grundsätzlich abgeschlossen sein.
Nur sehr schutzbedürftige Menschen sollen dabei von den Ausnahmeregelungen ausgenommen und auf das Festland überführt werden dürfen. Hierzu sollen europäische Beamte die Glaubwürdigkeit von Foltererfahrungen oder LGBT-Diskriminierung separat bewerten.
Jahre bis zum Anhörungstermin
Die humanitären Zustände vor Ort zeugen indes von einem eklatanten Verstoß gegen die gesetzlichen Vorgaben. Für Unterkunft, Hygiene, medizinische Versorgung und Bildung ist nicht gesorgt. Im Dreck am Steilhang im sogenannten Dschungel harren zwischen 1.300 und 1.800 Menschen zwischen den Bäumen der Dinge. Insgesamt sind laut unveröffentlichten Zählungen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) insgesamt 3902 Flüchtlinge im Lager, welches für etwa 650 Personen konzipiert wurde.
Auch dauern die Verfahren laut griechischem Flüchtlingsrat mit durchschnittlich 83 Tagen deutlich länger als vorgesehen – manche warteten nach ihrer Anhörung über ein Jahr auf eine Entscheidung. Auf Samos wurden beispielsweise afghanischen Familien im November ihre Anhörungstermine mitgeteilt. Diese sollen zwischen September 2020 und Februar 2021 stattfinden. So sitzen Menschen teilweise für Jahre auf der Insel fest, in ständiger Angst zurückgeschoben werden zu können.
Die Hintergründe für die Verzögerungen sind unklar. Teilweise fehlt es an geschultem Personal, geschulten Übersetzern und Psychologen. Es gibt zudem einen massiven Rückstand an unabgeschlossenen Verfahren.
Ausnahmesituation ist nicht mehr gegeben
Das griechische Gesetz sieht – ähnlich wie die Pressemitteilung zur EU-Türkei-Vereinbarung – weiterhin vor, dass die Ausnahmeregelungen nur solange verlängert werden sollen, wie "Drittstaatsangehörige oder Staatenlose in großen Zahlen ankommen und internationalen Schutz beantragen". Eine Reform im Juni 2016 hatte eine Geltungsdauer von sechs Monaten vorgesehen, mit einer Verlängerungsmöglichkeit von weiteren sechs Monaten. Zuletzt jedoch wurde die Geltung der Ausnahmeregelungen durch eine Gesetzesreform im August 2017 für weitere 24 Monate beschlossen.
Die Ausnahmesituation in der Ägäis ist also längst zu einem Dauerzustand geworden. Dabei ist die Lage an der EU-Grenze in Griechenland inzwischen eine ganz andere. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex meldete erst kürzlich, dass die Anzahl illegaler Grenzübergänge in Europa insgesamt auf dem geringsten Stand seit 2014 sei. Auch nach Erhebungen des UNHCR ist die Zahl seit 2015 drastisch gesunken. Die gesetzgeberische Rechtfertigung für den Ausnahmezustand auf den griechischen Inseln ist somit inzwischen weggefallen, dennoch wird eine Aufhebung der Ausnahmeregelungen derzeit nicht in Betracht gezogen.
Die EU akzeptiert, dass ihre eigene Verpflichtung auf die Achtung der Menschenwürde, der Menschenrechte und der Rechtstaatlichkeit auf den griechischen Inseln Tag für Tag mehr ausgehöhlt wird. Das Selfie am Hafen von Vathy ist ein zynisches Sinnbild für die Realität der Flüchtlinge in Europa. Es steht für die enttäuschte Hoffnung nach Normalität und Schutz, die der Flucht aus dem eigenen Land einst inne war.
Der Autor Jonas Hein ist Rechtsanwalt in Berlin. Er verbrachte einen Monat auf Samos mit dem Rechtsinformationsprojekt der Refugee Law Clinic Berlin e.V.
Mit der Refugee Law Clinic auf Samos: . In: Legal Tribune Online, 11.01.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/33149 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag