Ralph W., der 211.000 Euro für die Vertretung eines NSU-Opfers erhielt, das es nie gab, habe praktisch alle denkbaren Vorschriften des Anwaltsrechts verletzt. Einen strafrechtlich relevanten Vorsatz aber sah das LG Aachen am Montag nicht.
Das Gesetz kennt keinen fahrlässigen Betrug, begründete die Vorsitzende der 9. Großen Strafkammer am Landgericht (LG) Aachen, Melanie Theiner, das Urteil für den Anwalt aus Eschweiler. Ralph W. hat im sog. NSU-Prozess mehr als zwei Jahre lang eine angebliche Geschädigte des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße vertreten, die tatsächlich nie existiert hat. Er hat dabei Atteste vorgelegt, die gefälscht waren, und für die Nebenklagevertretung insgesamt über 211.000 Euro für Gebühren, Kosten und Auslagen erhalten.
Auch im Loveparade-Prozess vor dem LG Duisburg wollte W. sich als Nebenklagevertreter für einen Geschädigten bestellen lassen, bezahlen sollte auch hierfür der Staat. In gleich zwei Fällen war er angeklagt. Einmal, weil er gefälschte Atteste vorgelegt hatte und keinen Nachweis darüber erbringen konnte, dass sein Mandant überhaupt unter Nachwirkungen der Katastrophe in Duisburg litt. Ein anderes Mal, weil er eine Mandantin, die ihn beauftragt hatte, an den bekannten Kölner Strafverteidiger Mustafa Kaplan übertragen haben soll.
Aus Sicht der Aachener Strafkammer reicht es in keinem der Fälle für die erforderliche richterliche Überzeugung, dass der Angeklagte schuldig ist. "Für die Bestrafung der Handlungen des Angeklagten war die Strafkammer nicht die richtige Instanz", sagte Theiner am Montag. W. habe gegen "so ziemlich alle anwaltsrechtlichen Vorschriften verstoßen, die man sich denken kann. Aber dafür ist nicht die Strafkammer zuständig."
Beim Beiordnungsantrag: Kein bedingter Vorsatz
Die Strafkammer hätte nichts richtig machen können, der angeklagte Anwalt sei in den Medien längst verurteilt gewesen, sagte Theiner zur Eröffnung. Und im weiteren Verlauf der Urteilsbegründung klingt es manchmal fast, als rechtfertige sie sich dafür, in dubio pro reo zugunsten des Anwalts aus Eschweiler entschieden zu haben. "Hier entscheidet nicht Frau Theiner", sagte die sonst so resolut wirkende Vorsitzende. "Hier entscheiden drei erfahrene Berufsrichter". Unzweifelhaft habe der Anwalt große Fehler gemacht, es hätte viele Wegpunkte gegeben, an denen W. "seinen eigenen Zug in den Abgrund noch hätte aufhalten können", sagte Theiner. Er habe grob fahrlässig gehandelt, wenn nicht sogar leichtsinnig; aber es stehe nicht fest, dass er vorsätzlich gehandelt hat.
Relevant für den Betrugsvorsatz sei der Kenntnisstand des angeklagten Anwalts zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Beiordnung gewesen. Am 30. April 2013, dem Datum der Beiordnung von W. als Nebenklagebeistand von Meral Keskin im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) München, hätten alle Voraussetzungen des Betrugs vorliegen und W. hätte mindestens positiv wissen müssen, dass das Attest für Meral Keskin in Wahrheit für den bei dem Anschlag tatsächlich verletzten Vermittler der Mandate, Atilla Ö., ausgestellt worden sei.
Doch bis zu diesem Zeitpunkt hätten die Alarmglocken bei W. noch nicht schrillen müssen, meint die 9. Große Strafkammer und verneinte den für einen Betrug zumindest erforderlichen bedingten Vorsatz. Der sei nämlich nicht mit dem Wissen von heute zu beurteilen, sondern aus der Perspektive von W., damals, im Jahr 2013, als er sowohl den Antrag auf Beiordnung als Nebenklagevertreter stellte als auch den auf Auszahlung von 5.000 Euro aus dem Opferfonds beim Bundesamt für Justiz (BfJ).
"Eine ganz normale Akte" für das Phantom Meral Keskin
Der Anruf, dass es noch unvertretene Opfer des NSU-Anschlags in der Keupstraße gebe, der kam von einem Anwaltskollegen, betonte Theiner. Der dem Angeklagten gut bekannte Anwalt war es auch, der Meral Keskin erstmals erwähnte. Es sei also, so die Kammer, nicht etwa W. gewesen, der sich das angebliche Opfer ausgedacht hat. Die Schilderungen des Ö., selbst ein Opfer des Nagelbombenanschlags, der neben der Meral Keskin, die es gar nicht gab, auch seine Mutter als angebliche Geschädigte vermittelte, seien zunächst auch nachvollziehbar gewesen.
Ö. sei es gewesen, der alles erfunden habe, so die Kammer. Dass der angeklagte Anwalt das Original der – zudem sehr schlecht gemachten – Fälschung des Attestes für Meral Keskin hatte, spreche zwar gegen ihn.
Doch seine Behauptung, er habe sich das nicht so genau angesehen, passe zu dem Bild, das W. während des Strafverfahrens abgegeben habe, meinte Theiner. Und dieses Indiz werde durch die restlichen Indizien, aufgrund derer er zuerst einmal davon habe ausgehen dürfen, dass es ein ganz normales Mandat sei, "neutralisiert". So hätten die Mitarbeiterinnen seiner Kanzlei ausgesagt, die Nebenklagevertretung Keskin sei für sie eine ganz normale Akte gewesen, und auch sein Sozius habe, als W. nicht da war, Schriftverkehr mit dem BfJ in Sachen Opferentschädigung geführt. Nichts Geheimes, sagte Theiner, eine ganz normale Akte.
Während des NSU-Prozesses: Keine Garantenstellung
Wie es danach weiterging, ist aus Sicht der 9. Strafkammer nicht relevant: Ist die Entscheidung über die Beiordnung eines Nebenklagevertreters einmal getroffen, ist diese gerichtliche Entscheidung für den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bindend. Die Zulässigkeit der Beiordnung darf nicht mehr überprüft werden, wenn der Anwalt in der Folge seine Kosten und Auslagen geltend macht.
So rechneteW. von 2013 bis 2015 insgesamt über 211.000 Euro ab, neben Gebühren auch tatsächlich angefallene Hotelkosten und Auslagen. Während er keine ladungsfähige Anschrift seiner Mandantin hatte, während Meral Keskin nie vor Gericht erschien und während Ö. ihn immer wieder vertröstete.
Doch der Zeitpunkt der Beiordnung war abgeschlossen, ein aktives Betrügen nicht mehr möglich, argumentiert die 9. Strafkammer des LG Aachen. Und für einen Betrug durch Unterlassen, weil der Anwalt sich dem OLG nicht offenbarte, sah die sich nicht in der Lage, einen konkreten Zeitpunkt zu benennen, zu dem W. dieses Wissen hätte haben und gegebenenfalls teilen müssen. Und für einen Betrug durch Unterlassen bräuchte es zudem, so die Kammer, eine Garantenstellung, die es für einen Anwalt gegenüber dem Gericht nicht gebe. Und schließlich habe es im Laufe des Verfahrens auch keinen weiteren Irrtum gegeben, den der Angeklagte durch ein Unterlassen herbeigeführt hätte.
"Nicht nur der Angeklagte hat seinen Job nicht gemacht"
Die beiden anderen Tatkomplexe, die die Staatsanwaltschaft W. zur Last legte, handelte die Kammer schnell ab: Er habe keinen versuchten Betrug durch den Versuch einer Beiordnung als Nebenklagevertreter auch im Loveparade-Prozess begangen, weil gar nicht feststehe, dass sein damaliger Mandant nicht auf der Loveparade gewesen oder dort nicht beeinträchtigt worden sei. Auch von einem Vorsatz war die Kammer nicht hinreichend überzeugt, ebenso wenig in dem Fall, in dem er eine echte Geschädigte der Loveparade-Katastrophe an den Kölner Strafverteidiger Mustafa Kaplan "weiter reichte": W. sei davon ausgegangen, dass sie Bescheid gewusst habe, Kaplan habe das erst recht geglaubt, so dass es schon keine rechtswidrige Haupttat gegeben habe.
Theiner macht noch einen Schlenker über staatliche Versäumnisse: Die Widersprüche hätten auch der Staatsanwaltschaft in Köln auffallen müssen, oder dem OLG in München, sagt sie. Schon bei seiner Vernehmung im Jahr 2016 habe Ö., den die Kammer als Drahtzieher ansieht, sich in extreme Widersprüche verwickelt. Und dass die erfundene Meral Keskin sich laut dem Beiordnungsantrag an einem ganz anderen Ort in der Keupstraße befand als laut dem Antrag an das BfJ, das habe auch das OLG München vor Augen gehabt. Die erfolglosen Zustellversuche und die immer wieder neuen Begründungen, warum Keskin nicht vor Gericht auftauchte, hätten dies gezeigt
Auch das BfJ, das wohl Zweifel gehabt habe, habe die Härtefallleistung schließlich gewährt – aus Angst vor schlechter Presse, weil die Anerkennung der Geschädigten des NSU als Opfer ohnehin schon so lange hatte auf sich warten lassen. "Keine Behörde, keine andere Person hat all die Widersprüche zum Anlass genommen, beim Angeklagten nachzufragen", betonte Theiner, die auch die Ermittlungen der Duisburger und der Kölner Staatsanwaltschaft deutlich kritisierte: "Hier hat nicht nur der Angeklagte seinen Job nicht gemacht."
"Geschacher um anwaltliche Mandate"
Die Anwaltskammer müsse gar nicht mehr selbst aufklären, welche anwaltlichen Pflichtverletzungen W. begangen habe – "alle liegen auf dem Tisch", sagte Theiner und fragte, warum die Kammer nicht selbst ermittele. Ihre Aufzählung des anwaltlichen Versagens von W. war lang.
Dass W. immer nur Ö. getroffen habe, niemals die Mandantin selbst, nicht einmal zur Unterzeichnung der Vollmacht. Dass Ö. und die vermeintliche Mandantin von Anfang an Provisionen in Höhe von mehreren Tausend Euro forderten, auf die der Anwalt sich unter Verstoß gegen 49b Abs. 3 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) einließ, die er zum Teil von privaten Konten bezahlte und die er an Ö. weiterleitete, obwohl der nie eine Geldempfangsvollmacht für Keskin vorgelegt hatte. Und es ging immer weiter, so weit, dass W. sich Geld von einem Kumpel lieh, um Ö.s Forderungen zu erfüllen.
Die Vorschrift des § 43 BRAO, nach der der Anwalt seinen Beruf gewissenhaft und so auszuüben hat, dass er sich der Achtung und des Vertrauens, die seine Stellung erfordert, als würdig erweist, hätte zumindest eine oberflächliche Schlüssigkeitsprüfung der Akte erfordert, so Theiner. W. hätte sehen müssen, dass Meral Keskins Name in keiner Gerichtsakte vorkam und auf keiner Verletztenliste stand. Ihm hätte auffallen müssen, dass sie sich laut einer Version beim Friseur, laut einer anderen vor einem Restaurant in der Kölner Keupstraße aufhielt. Er hätte eine Einwohnermeldeamtsanfrage starten müssen. Und er habe sich durch die unerlaubten Mitschnitte der Telefonate mit Ö. einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt, sagt Theiner.
W. hatte gegen Ende des Prozesses Mitschnitte von Telefonaten mit Ö. vorgespielt, die ein Bild von dem vermittelten, was in diesem Mandat geschah. Ein verzweifelter, jammernder Anwalt, der seinen Mandanten anbettelt, er würde ihm doch helfen – oder? - und dass Meral Keskin doch kommen würde, oder? W. habe sich in ein "Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis" zu Ö. begeben, diesem blind vertraut und jede Distanz verloren, sagt Theiner.
Die unwürdigen Vorgänge unter den Anwälten aus dem Aachener Umland im Umfeld der beiden Großverfahren, bei denen sie alle so gern mitmachen wollten, bezeichnete Theiner als "Geschacher um anwaltliche Mandate" und ein "Hin- und Herschieben". Es sei an der Zeit, sagte die Vorsitzende, schon wegen seiner vielfachen anwaltlichen Pflichtverletzungen den Rückzahlungsanspruch des Staates Bayern ebenso anzuerkennen wie die zu erwartenden Maßnahmen des Anwaltsgerichts. Von den insgesamt über 211.000 Euro sind nach Teilleistungen W.s noch 140.000 Euro offen gegenüber der Landeskasse Bayern. Gegen die Rückzahlung der 5.000 Euro Opferentschädigung an das BfJ hat W. Widerspruch eingelegt. Das berufsrechtliche Verfahren hat die für ihn zuständige Anwaltskammer Köln bereits an die Generalstaatsanwaltschaft abgegeben.
Opfer im NSU-Prozess erfunden?: . In: Legal Tribune Online, 30.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43582 (abgerufen am: 25.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag