Deutschlands inoffizieller EM-Song 2024: "Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen". Die Ultra-Parole entwickelte sich vom schrägen Meme zum omnipräsenten Party-Hit. Katharina Reisch analysiert, ob Pyrotechnik wirklich kein Verbrechen ist.
Im Hintergrundrauschen der Fußball-EM entwickelt sich die Musikkarriere des selbsternannten "Balkonultra" zu einem einzigen Fiebertraum: Mit seiner inoffiziellen EM-Hymne "Pyrotechnik" hat er eine Partyrakete gezündet, die keine Bremsen hat.
Der "Balkonultra" ist der 29-jährige Niko Thoms aus Sachsen. Der Altenpfleger lädt in seiner Freizeit Videos auf TikTok hoch, in denen er typische Stadion-Parolen aus der Ultra-Szene von seinem Balkon grölt. Einer seiner Clips ging jetzt viral. Darin skandiert er: "Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen. Wir werden dafür kämpfen. Und lassen Emotionen freien Lauf". Als YouTuber Marc Eggers und Mallorca-Schlagersänger Ikke Hüftgold – letzterer unter anderem bekannt durch mitreißende Partyknaller wie "Ich schwanke noch" und "Bumsbar" – auf den "Balkonultra" aufmerksam wurden, ging plötzlich alles ganz schnell: Zwei Tage nach der Anfrage von Ikke Hüftgold nahmen sie gemeinsam den "Pyrotechnik"-Fangesang im Tonstudio auf, im Anschluss flogen sie für einen ersten Auftritt zum Ballermann.
Inzwischen hat "Pyrotechnik" über 2 Millionen Wiedergaben bei Spotify und wird nicht mehr nur von heimischen Balkonen gegrölt, sondern auch am Ballermann und in der deutschen EM-Fankurve. Der BR titelt, "Pyrotechnik" sei der "subversive EM-Hit 2024".
Ist Pyrotechnik ein Verbrechen?
Sein Erfolg in der breiten Masse der Bevölkerung scheint dem "Balkonultra" Recht zu geben: Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen. Das ist ganz herrschende Meinung im deutschen EM-Sommer 2024. Doch stimmt das überhaupt? Ist Pyrotechnik wirklich kein Verbrechen?
§ 12 Abs. 1 StGB definiert "Verbrechen" als rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Straftaten, die mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bedroht sind, gelten als "Vergehen" (§ 12 Abs. 2 StGB). In der Kriminologie wird das "Verbrechen" weit verstanden: Es umfasst alle Straftaten (Meier, Kriminologie, § 1 Rn. 10).
Dass Pyrotechnik im Fußballstadion – allein im Kernstrafrecht – eine so breite Palette von Tatbeständen erfüllen kann, dass man eine ganze Doktorarbeit darüber schreiben kann, zeigt die straf- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Untersuchung des Sportrechtlers Till Pörner zu „pyrotechnische[n] Zwischenfälle[n] im deutschen Fußball“. Sie zeigt aber auch: Für die Frage der Strafbarkeit kommt es stark darauf an, welche Art von Pyrotechnik in welchem konkreten Setting wie verwendet wird. Die Palette der in Fußballstadien verwendeten Pyrotechnik ist nämlich breit. Sie erfasst zum Beispiel das Abbrennen von bengalischen Feuern ("Bengalos"), das Zünden von Notsignalraketen, die Explosion von Knallkörpern oder auch Rauchbomben. Für die Fußball-Ultra-Szene gehört Pyrotechnik zur Fankultur dazu.
Pyrotechnik ist im Stadion verboten
Sie kann aber bei anderen Stadionbesucher:innen gravierende Verletzungen wie Rauchvergiftungen, Verbrennungen, Prellungen, Platzwunden oder Knalltraumata verursachen. Bengalos werden nicht nur bis zu 2.500 Grad heiß, sondern auch so hell, dass sie Augenschäden herbeiführen können. Der durch Pyrotechnik oft entstehende dichte Rauch ist zudem nicht nur sehr giftig, sondern kann auch eine Massenpanik auslösen.
Daher ist das Zünden von Pyrotechnik im Stadion nach den Versammlungsstättenverordnungen der Länder, nach § 24 der Sicherheitsrichtlinien des Deutschen Fußball-Bundes e.V. (DFB) und den Stadionordnungen grundsätzlich verboten. Bei Verstößen droht Fans ein bundesweites Stadionverbot und den Vereinen eine vom DFB-Sportgericht verhängte Geldstrafe.
Körperverletzungsdelikte
Strafrechtlich relevant ist das Zünden von Pyrotechnik insbesondere dann, wenn dadurch Menschen verletzt werden. Das erfüllt meist den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB, weil es sich bei den in Fußballstadien häufig verwendeten pyrotechnischen Gegenständen regelmäßig um gefährliche Werkzeuge handelt. Zum Beispiel werden Bengalos oder Böller wegen ihrer massiven Hitzeentwicklung bzw. Explosionswirkung sowohl objektiv als auch aufgrund ihres konkreten Einsatzes in einer Menschenmenge geeignet sein, erhebliche Verletzungen zu verursachen. Wird giftiger Rauch freigesetzt, kommt ein Beibringen von gesundheitsschädlichen Stoffen nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StGB in Betracht. Es ist auch gut möglich, dass die Tat gemeinschaftlich begangen wird (§ 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB).
Hat die Körperverletzung zur Folge, dass jemand das Sehvermögen auf mindestens einem Auge oder das Gehör verliert, ist die Erfolgsqualifikation der schweren Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB und damit ein Verbrechen im Sinne des § 12 Abs. 1 StGB verwirklicht.
Auf der subjektiven Tatseite können sich schwierige Abgrenzungsfragen zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit stellen. Wer glaubt, die Pyrotechnik sicher einzusetzen und die Verletzung von Menschen gerade nicht billigend in Kauf nimmt, ist mangels Vorsatzes allenfalls wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) strafbar.
Wird hingegen niemand verletzt oder die Erheblichkeitsschwelle zur Körperverletzung aufgrund leichter Beeinträchtigungen wie kurzzeitigem Husten nicht überschritten, ist – bei Feststellung eines entsprechenden Tatentschlusses – eine Versuchsstrafbarkeit nach §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 22, 23 StGB möglich (AG Hannover, Urt. v. 11.03.2015, Az. 223 Ds 375/14).
Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion
Eine weitere Verbrechensstrafbarkeit kann sich aus § 308 Abs. 1 StGB wegen des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion ergeben. Dafür muss die Sprengstoffexplosion Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet haben. Erfasst ist nur Pyrotechnik, die eine erhebliche Explosion und dadurch eine konkrete Gefahr verursacht. Kleinere Explosionen wie bei handelsüblichen Feuerwerkskörpern sollen nach h.M. nicht erfasst werden. Im Stadion-Kontext greift die Norm vor allem bei besonders gefährlichen illegalen Böllern (LG Osnabrück, Urt. v. 23.3.2012, Az. 10 KLs 37/11; BGH, Beschl. v. 08.12.2021 – 3 StR 264/21). Werden mehr als vierzehn Menschen konkret gefährdet, kann die Erfolgsqualifikation des § 308 Abs. 2 StGB erfüllt sein (BGH, Urt. v. 11.08.1998, Az. 1 StR 326/98, 175, 178).
Bei Explosionen im Stadion sind außerdem oft die Sachbeschädigung nach § 303 StGB und verschiedene Konstellationen von Brandstiftung nach den §§ 306 ff. StGB einschlägig. Hinzu kommen weitere Tatbestände des Nebenstrafrechts, etwa aus dem Waffengesetz und dem Sprengstoffgesetz, die hier allerdings nicht vertieft werden sollen.
Straftaten gegen die öffentliche Ordnung
Die Pyro-Aktionen im Fanblock können auch Straftaten gegen die öffentliche Ordnung darstellen. Einen Hausfriedensbruch (§ 123 Abs. 1 Alt. 3 StGB) verwirklichen die Fans durch Betreten des Stadions aber in der Regel nicht. Es besteht eine generelle Zutrittserlaubnis für alle mit gültiger Eintrittskarte, die nach ganz h.M. erst entfällt, wenn das äußere Erscheinungsbild des Fans erheblich von dem gestatteten Betreten abweicht. Wenn Pyrotechnik ins Stadion geschmuggelt wird, geschieht das äußerlich sehr unauffällig, versteckt etwa in der Unterwäsche, im Jackenfutter oder Kapuzenkragen, in Socken, Schuhen, Zigarettenschachteln, Getränkedosen, mittels vorgetäuschter Schwangerschaften oder in einem handelsüblichen Brötchen. Der Fantasie sind bei den möglichen Verstecken keine Grenzen gesetzt, wie die Untersuchung des Sportrechtlers Sebastian Alexander Kober zu "Pyrotechnik in deutschen Fußballstadien" eindrücklich zeigt.
Wahrscheinlicher ist die Verwirklichung eines Landfriedensbruchs nach § 125 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 StGB. Danach wird bestraft, wer sich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit beteiligt, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden. Solche Gewalttätigkeiten können vorliegen, wenn Stadionbesucher:innen gezielt mit Sprengkörpern beworfen werden. Für den Tatbestand reicht ein einzelner Täter aber nicht: Die Gewalttätigkeit muss "aus einer Menschenmenge" heraus erfolgen. Die Rechtsprechung bejaht diese ab etwa 15 bis 20 Personen (BGH, Urt. v. 29.08.1985, Az 4 StR 397/85).
Warum Strafen keine Lösung sind
Klar ist somit: Wer Pyrotechnik im Fußballstadion zündet, kann sich strafbar machen und damit zumindest ein "Verbrechen" im kriminologischen Sinne begehen.
Mindestens ebenso klar ist aus kriminologischer Sicht aber auch: Das Strafrecht kann Pyrotechnik im Fußballstadion nicht verhindern. Laut DFB haben Pyro-Aktionen nach der Corona-Pandemie noch einmal zugenommen. Strafen erreichen die Ultra-Szene also nicht. Maximal-punitive Ansätze eskalieren in "Wir-gegen-die"-Rhetorik und verhärten die Fronten. Kriminalprävention funktioniert so nicht.
Vielversprechend sind dagegen neue rechtspolitische Ansätze, die der Fankultur auf Augenhöhe begegnen und das Abbrennen von Pyrotechnik im Stadion unter sicheren Bedingungen erlauben. Wie das gelingen kann, zeigte schon in den 2010er Jahren der "Chemnitzer Weg". Damit gemeint sind Pyro-Aktionen der Chemnitzer Ultras, die in Absprache mit Verein, Fans, Polizei und Ordnungsamt Bengalische Feuer kontrolliert in einem abgesperrten Bereich abbrannten. 2020 wurde ein ähnliches Konzept in Hamburg erfolgreich getestet.
Katharina Reisch promoviert am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtssoziologie an der Universität Leipzig bei Prof. Dr. Katrin Höffler und ist zugleich wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Uwe Murmann an der Georg-August-Universität Göttingen.
Fußball-EM und Strafrecht: . In: Legal Tribune Online, 21.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54827 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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