Der Loveparade-Prozess in der Messe Düsseldorf steckt voller Superlative. Was Juristen eine medienwirksame Bühne bietet, kann für die Beteiligten zum Albtraum werden. Umso mehr, weil viele Erwartungen gar nicht erfüllt werden können.
Am morgigen Freitag beginnt im Congresscenter Düsseldorf Ost mit dem Loveparade-Prozess einer der größten Prozesse der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Insgesamt 500 Plätze hat der Zuschauerbereich des Saals im ersten Stock, davon 85 allein für die Medienvertreter. Man wird sie brauchen, für die zehn Angeklagten, ihre 24 Verteidiger, die 64 Nebenkläger und ihre Vertreter. Simultandolmetscher werden in fünf Sprachen übersetzen.
In vorerst 111 angesetzten Terminen will die 6. Große Strafkammer des Landgerichts (LG) Duisburg bis Ende 2018 darüber verhandeln, ob die sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg und vier Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent sich u.a. der fahrlässigen Tötung und Körperverletzung schuldig gemacht haben, als im Jahr 2010 bei der Loveparade 21 Menschen ums Leben kamen und mehr als 650 verletzt wurden.
Das Verfahren, das schon vor dem ersten Termin zur Hauptverhandlung einen mehr als ungewöhnlichen Verlauf nahm, findet jetzt unter enormem Druck statt. In zeitlicher Hinsicht, weil die Taten der absoluten Verjährung (§ 78c Abs. 3 Strafgesetzbuch) unterliegen, wenn nicht bis Juli 2020 ein erstinstanzliches Urteil vorliegt. In medialer Hinsicht, weil das Unglück auch deshalb als besonders schlimm wahrgenommen wird, weil es ausgerechnet junge Menschen traf, die sich zum ausgelassenen Feiern versammelt hatten. Und nicht zuletzt in emotionaler Hinsicht. Noch viel wichtiger als für die Presse ist es für die dutzenden Nebenkläger, dass das Geschehen aufgeklärt wird. Und dass eine offizielle Stelle feststellt, wer dafür verantwortlich ist, dass sie einen geliebter Menschen verloren haben.
Ob es dazu kommen wird, ist völlig ungewiss. Sicher ist dagegen, dass der Mammutprozess alle Beteiligten vor historische Herausforderungen stellt. Sie beginnen bei der Technik des Sitzungssaals, stellen strafrechtliche Grundsatzfragen in das Licht der Öffentlichkeit und enden bei der Frage, was das Strafrecht überhaupt leisten kann.
Eine Bühne für Juristen
Neben den drei Richtern und zwei Schöffen werden drei Ergänzungsrichter und fünf Ergänzungsschöffen das Verfahren begleiten, damit es nicht wegen eines Ausfalls auf der Richterbank platzt. Die zuständige 6. Große Strafkammer wurde von allen neu eingehenden Verfahren freigestellt.
Sämtliche Verteidiger mussten Vorschläge für Pflichtverteidiger unterbreiten, die einspringen, wenn sie selbst an einem der Prozesstage verhindert sind. Das wird ziemlich sicher geschehen, zumal das Gericht angesichts des straffen Zeitplans schon jetzt mit drei Terminen pro Woche plant. Das ist selbst für größere Kanzleien mit vorhandenem Personal kaum zu leisten.
Dennoch sind auch die ganz großen Kanzleien höchst interessiert an dem Verfahren. Nach LTO-Informationen soll es hinter den Kulissen in den vergangenen Monaten ein regelrechtes Geschacher um die medienwirksamen Plätze neben Angeklagten oder Nebenklägern gegeben haben. Selbst Größen der Strafrechtswelt sollen angeboten haben, sich als zweiter oder dritter Verteidiger zur Verfügung zu stellen - ohne Honorar. Vielen war vielleicht bis dahin nicht bewusst gewesen, dass das Verfahren mindestens in seinen Dimensionen den Münchner NSU-Prozess in den Schatten stellen dürfte. Die Kulisse, in der es stattfinden wird, ist angemessen, um denen eine Bühne zu bieten, die sie suchen. Für alle anderen ist sie bestenfalls einschüchternd.
2/3: Eine einschüchternde Kulisse für Beteiligte
Der Platz vor dem Messeeingang bietet genug Platz für den Aufbau dutzender Kameras. Drinnen glänzen graue Wände, von der Decke des 750 qm großen Saals des Congress Centers strahlen hunderte Lampen.
Wer sprechen will, muss sich anmelden – über eine Sprechstelle, ein wenig wie in einer Spielshow. Dann zoomen die Kameras, die oben im Dach verbaut sind, automatisch zu der Sprechstelle hin, erklärte Gerichtssprecher Matthias Breidenstein, als Ende Oktober die Räumlichkeiten vorgestellt wurden. "So ist gewährleistet, dass Ton und Bild immer an alle im Saal akkurat übertragen werden".
Die rund 500 Menschen im Saal sollen jedes Wort hören, jede mimische Entgleisung sehen können. Auch wenn während der Verhandlung keine Kameras aufzeichnen dürfen, ist diese Art von Öffentlichkeit selbst für Menschen, die an öffentliche Auftritte gewöhnt sind, ungewöhnlich.
Für Menschen, die normalerweise nicht im Rampenlicht stehen und in der emotionalen Ausnahmesituation sind, am Verfahren wegen des Todes eines Angehörigen teilzunehmen, ist sie extrem belastend. Und für Menschen, die auf der Anklagebank sitzen, weil ihnen zur Last gelegt wird, fahrlässig Menschen getötet und schwer verletzt zu haben, ist sie ein Albtraum.
Wie viel Öffentlichkeit vertragen die Beteiligten?
Das ist auch dem LG bewusst. "Für uns war es wichtig, den besonderen Service anzubieten, dass alle, also sowohl die Angeklagten als auch die Nebenkläger, vorher die Möglichkeit haben, den Gerichtssaal kennenzulernen", sagte Sprecher Breidenstein nach der Führung Ende Oktober gegenüber der ARD.
Prof. Dr. Julius Reiter, Vertreter von zehn Nebenklägern, hat diese Gelegenheit nach eigenen Angaben genutzt. Es sei wichtig, die Menschen auf diesen "ungewöhnlichen Prozess" vorzubereiten, sagte er im ARD-Interview. Er erkläre den Mandanten genau, was auf sie zukomme, und stehe ihnen dann vor Ort bei, so der IT- und Bankrechtler von der Kanzlei Baum, Reiter & Collegen aus Düsseldorf.
Auch Prof. Dr. Björn Gercke, Verteidiger eines der angeklagten Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent, spricht von einer absoluten Ausnahmesituation. "Bilder, wie man sie von sonstigen Strafverfahren im öffentlichen Interesse kennt - auf denen sich Angeklagte hinter ihren Mappen vor den Kameras verstecken - wirken im Vergleich zu dem, was die Beteiligten nun in der Messe Düsseldorf erwartet, geradezu harmlos".
3/3: Zur Überzeugung des Gerichts
Dabei sind alle Beteiligten bereits seit Jahren durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen. Die ursprünglich zuständige 5. Große Strafkammer des LG Duisburg lehnte im April 2016* die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Mit dem Gutachten des britischen Panikforschers Keith Still hielt sie ein zentrales Beweismittel der Staatsanwaltschaft für nicht verwertbar, den Anklagevorwurf für nicht hinreichend belegt.
Im April 2017 ließ das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf jedoch die Anklage zu und verwies das Verfahren an die 6., also eine andere Große Strafkammer desselben Gerichts. Im Beschwerdeverfahren ist das – anders als im Revisionsverfahren - keineswegs die Regel.
Für das OLG "liegt es nahe, dass die unzureichende Dimensionierung und Ausgestaltung des Ein- und Ausgangssystems für die Besucher sowie die mangelnde Durchflusskapazität planerisch angelegt und für die Angeklagten vorhersehbar zu der Katastrophe geführt hätten".
Für eine Verurteilung aber braucht es mehr als diesen hinreichenden Tatverdacht, der für die Anklageerhebung ausreicht. Am Ende müsste die 6. Strafkammer davon überzeugt sein, dass die Fehler genau der Menschen, die nun auf der Anklagebank sitzen, zu der Katastrophe führten. Dass sie es waren, deren Entscheidungen und Handlungen zum Tod der 21 Opfer geführt haben – und nicht zum Beispiel die Polizei, deren Planung und Verhalten am Tag der Katastrophe ebenfalls schwer in der Kritik stehen, von der aber niemand angeklagt ist. Es braucht, so der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dafür keine zwingende Gewissheit. Aber es braucht ein "nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht zulässt".
Von den Mitteln, den Grenzen und den Aufgaben des Strafrechts
Es sind nicht nur dem Beweis zugängliche Tatsachenfragen und umstrittene Gutachten, um die es ab Freitag gehen wird. Das LG Duisburg steht vor komplexen juristischen Fragen der Kausalität zwischen der Tathandlung und dem Tod von 21 sowie der Verletzung von mehr als 650 Menschen.
Die 5. Strafkammer des LG hielt eine Verurteilung in der Hauptsache nicht für wahrscheinlich genug, um auch nur das Hauptverfahren zu eröffnen. Das OLG kritisierte daran, die Kammer habe wesentliche Elemente des ermittelten Sachverhalts nicht ausreichend berücksichtigt und alternative Ursachen für die Katastrophe zwar als möglich benannt, nicht aber festgestellt. Andererseits habe das LG fehlerhaft wegen anderer Umstände einen vorwerfbaren Zusammenhang zwischen den mutmaßlichen Planungsfehlern der Angeklagten und dem Unglück abgelehnt. Dass vor dem und am Tattag auch andere als die Angeklagten Fehler gemacht hätten, räume den Tatverdacht bezüglich der Kausalität der ihnen zur Last gelegten Pflichtverletzungen nicht aus, meinte das OLG.
Für Verteidiger Gercke rührt das Mammutverfahren an Grundlagen des deutschen Kausalitäts- und Strafrechtssystems. "Das Verfahren ist faktisch nicht verhandelbar", das Strafrecht sei für solche Großunglücke nicht gemacht, so der Kölner Fachanwalt für Strafrecht im April gegenüber LTO. "Ist es nicht auch denkbar, dass eine Katastrophe eintritt, die viele Ursachen, aber keine strafrechtlich Schuldigen hat?", fragte damals Prof. Dr. Volker Römermann, dessen Kanzlei ebenfalls einen der Beschuldigten vertritt.
Selbst wenn man abseits dieser strukturellen Fragen ein Strafverfahren für das richtige Mittel zur Aufarbeitung einer solchen Katastrophe halten wollte, steht eines schon fest: Kaum ein Strafprozess erfüllt die Erwartungen, die die Nebenkläger in ihn setzen. Der Opferbeauftragte des Landes Berlin, Roland Weber, sagte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur im Vorfeld des Loveparade-Verfahrens "Die sitzen nicht da, weil sie den Opfern eine Sachverhaltsaufklärung bieten wollen".
Das ist auch nicht die Aufgabe von Strafrichtern. Ein Strafverfahren soll klären, ob der Angeklagte persönlich im Sinne des Strafrechts schuldig ist. Entgegen der allgemeinen Annahme, dass am Ende des Verfahrens die Wahrheit ans Licht kommt und die Bösen bestraft werden, führt die dem Gericht zur Verfügung stehende, oft begrenzte Tatsachenbasis häufig dazu, dass am Schluss des Prozesses der Sachverhalt nicht so aufgeklärt werden kann wie erhofft. Ein Strafprozess kann versuchen, die Wahrheit zu rekonstruieren. An seinem Ende aber steht nie mehr als die Herstellung einer Wahrheit nach den Regeln des Strafprozessrechts.
Mit Materialien von dpa
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* Anm. d. Red: Datum korrigiert am Tag der Veröffentlichung, 17:24 Uhr (pl)
Pia Lorenz, Auftakt zum Loveparade-Prozess: Zur Überzeugung des Gerichts? . In: Legal Tribune Online, 07.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/25905/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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