Durften Polizisten einem Mitglied der "Letzten Generation" Schmerzen zufügen, um ihn zum Verlassen der Straße zu bewegen? Nach einem gescheiterten Eilantrag folgt nun die Klage in der Hauptsache. Die Begründung liegt LTO exklusiv vor.
"Wenn ich Ihnen Schmerzen zufüge – wenn Sie mich zwingen –, werden Sie die nächsten Tage, nicht nur heute, Schmerzen beim Kauen haben und beim Schlucken. Dann bitte ich Sie jetzt, rüber zu gehen. Ansonsten werde ich Ihnen Schmerzen zufügen."
Berlin, im April dieses Jahres. Mitglieder der "Letzten Generation" blockieren die drei Fahrbahnen der Straße des 17. Juni im Tiergarten. Die Presse ist anwesend und filmt das Geschehen. Ein vom Tagesspiegel veröffentlichtes Video dokumentiert nicht nur die obige Warnung eines Polizeibeamten an einen Protestierenden, sondern auch, wie diese anschließend in die Tat umgesetzt wird: Unter Schreien wird der Mann weggetragen.
Nachdem er mit einem vier Tage später hiergegen erhobenen Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht (VG) Berlin gescheitert ist (Beschl. v. 10.05.2023, Az. 1 L 171/23), erhebt der Aktivist eben dort – nun mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) – Klage in der Hauptsache. Das VG soll feststellen, dass der gegen ihn angewendete Schmerzgriff rechtswidrig war. Die Klagebegründung, die LTO exklusiv vorliegt, offenbart die Argumente.
Experten halten Schmerzgriffe für unverhältnismäßig
Die Feststellungsklage richtet sich weder gegen den zugrunde liegenden Platzverweis noch gegen dessen Vollstreckung im Wege des unmittelbaren Zwangs an sich. Vielmehr wird es in dem Verfahren vor dem VG Berlin ausschließlich darum gehen, inwieweit Schmerzgriffe eine verhältnismäßige Methode sind, Protestierende von der Fahrbahn zu schaffen.
Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung gehören bekanntermaßen vier Voraussetzungen: Die Maßnahme muss ein legitimes Ziel verfolgen, geeignet und erforderlich sein, dieses Ziel zu erreichen, sowie angemessen (verhältnismäßig im engeren Sinn) sein. Vorliegend wird es vor allem um die letzten beiden Punkte gehen. Im Zentrum steht die Frage, ob die Polizei hier keine anderen Optionen als den Schmerzgriff gehabt hätte und diese in rechtswidriger Weise ungenutzt gelassen hat.
Eine solche Alternative könnte sein, die Protestierenden einfach wegzutragen. Hierauf hatten bereits im November 2022 bzw. im April 2023 mehrere Öffentlich-Rechtler auf LTO hingewiesen, darunter der den klagenden Aktivisten vertretende Anwalt Dr. Patrick Heinemann sowie Verwaltungsrechtsprofessor Joachim Wieland. Etwas zurückhaltender hatte sich Polizeirechtsexperte Professor Markus Möstl geäußert: Dass Schmerzgriffe im Einzelfall erforderlich und angemessen seien, hielt er für durchaus plausibel, doch sei die jeweils gewählte Wegtragemethode auf möglichst schonende Weise durchzuführen.
Was ist ein Schmerzgriff?
Dabei spricht Möstl die Tatsache an, dass nicht "der eine" Schmerzgriff existiert. "Es gibt keine feststehende Definition für Schmerzgriffe", erklärt auch Rechtsprofessor Tobias Singelnstein, Kriminologe und Polizeiforscher in Frankfurt am Main, auf LTO-Anfrage. Vielmehr handle es sich dabei um einen Sammelbegriff für verschiedene "Techniken, die starke Schmerzen erzeugen und so den Willen der betroffenen Personen beugen sollen, insbesondere Nervendrucktechniken. Damit unterscheidet sich diese Praxis grundlegend vom Wegtragen, wo in der Regel keine Schmerzen entstehen beziehungsweise nur solche, die durch das Tragen bedingt und insofern Nebenfolge sind, während der eigentliche Zweck der Maßnahme durch das Tragen erreicht wird."
Was im vorliegenden Fall genau passiert ist, lässt sich auf dem vom Tagesspiegel veröffentlichten Video ohne Expertenwissen nicht erkennen. Der Mann windet sich schreiend, Arme und Beine leicht verdreht, aber gleichzeitig wirkt es so, als würden die Polizisten versuchen, den Mann wegzutragen. Die genaue Schmerzursache deutet sich mehrmals kurz an, etwa als ein Polizist dem Mann an den Hals greift oder als ein anderer Beamter einen Arm hinter dem Rücken verdreht. Doch die von Singelnstein angesprochene "Nervendrucktechnik" bleibt dem ungeschulten Auge im Wesentlichen verborgen. Bei dieser drücken die Beamten laut Heinemann mit ihren Fingern gezielt bestimmte Schmerzpunkte, etwa an Hals und Kiefer.
Klagebegründung: Wegtragen reicht aus, Schmerzgriff provoziert Gegenwehr
Im Rahmen der Erforderlichkeit der Maßnahme wird das VG nun prüfen müssen, ob diese Methode das mildeste Mittel war, das den Beamten in der konkreten Situation zur Verfügung stand und das legitime Ziel – Vollstreckung des (rechtlich nicht beanstandeten) Platzverweises – gleich effektiv erreicht hätte. Dass ein Wegtragen ohne Betätigen der Schmerzknöpfe milder ist als die Nervendrucktechnik, liegt auf der Hand. Problematisch ist vielmehr, ob dies in der konkreten Situation möglich war und gleich geeignet gewesen wäre.
Zur physisch-realen Möglichkeit eines "schlichten" Wegtragens, wie die Klagebegründung es nennt, stellt diese maßgeblich auf die Anzahl der anwesenden Polizeibeamten ab: "Es waren ausweislich der vorgelegten Videos hinreichend Polizeikräfte vor Ort, um den Kläger zu zweit, zu dritt oder gar zu viert fortzutragen. In der Polizeiausbildung werden spezielle Hebegriffe vermittelt, mit denen zwei Beamte eine Person ohne Weiteres wegtragen können."
Dabei stützt sich die Klagebegründung auch auf die Stellungnahme eines Polizei-Insiders, Kriminalhauptkommissar Oliver von Dobrowolski. Der Sprecher der Initiative "BetterPolice" verweist in dem LTO vorliegenden Dokument darauf, dass das Wegtragen "meist nur für eine Strecke von wenigen Metern (z. B. von der Fahrbahn zum Gehweg oder zu den polizeilichen Bearbeiter:innen vor Ort) erforderlich" sei und sich "bei früheren Sitzblockaden oder ähnlichen Protestformen bewährt" habe.
Dann stellt sich weiterhin die Frage, ob das Wegtragen ohne darüberhinausgehende Schmerzzufügung gleich geeignet im Hinblick auf das Ziel ist, den Protestierenden von der Straße zu bekommen. Nimmt man das Wort "gleich" in "gleich geeignet" ernst, könnte man daran zweifeln, denn das Drücken der Schmerzpunkte bewirkt idealerweise, dass der Betroffene widerstandsunfähig wird und der Abtransport schneller und einfacher vonstattengeht.
Die Klagebegründung aber hält den personellen oder kräftemäßigen Mehraufwand beim "schlichten" Wegtragen für rechtlich unerheblich: "Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gestattet es nicht, zu intensiveren Grundrechtseingriffen zu schreiten, nur weil die weniger intensiven, gleich geeigneten Mittel mit einem angeblich (geringfügig) größeren Aufwand verbunden sind."
Weiterhin zweifelt Klägeranwalt Heinemann noch grundlegender daran, dass das Wegtragen überhaupt aufwendiger wäre. Der protestierende Mann habe sich friedlich verhalten und nicht gewehrt. Ihn wegzutragen wäre aus seiner Sicht schnell und reibungslos verlaufen, wohingegen die "Anwendung von Schmerzen geeignet [sei], bei den Betroffenen eine unwillkürliche körperliche Abwehrreaktion hervorzurufen, die das Wegtragen oder gar den Einsatz weiterer körperlicher Gewalt erforderlich macht". Anders gesagt: Die Schmerzgriffe trügen selbst zur Eskalation der Situation bei.
Ob das VG Berlin sich dieser Auffassung anschließt, bleibt abzuwarten. Klar ist, dass es in dieser Frage um die konkreten Umstände des Einzelfalls gehen und das Urteil insofern wenig verallgemeinerungsfähig sein wird.
Schon Rechtsgrundlage für Schmerzgriffe bezweifelt
Das gilt nicht für ein zweites Argument, dass Heinemann für seinen Mandanten vorbringt. Die Klagebegründung stützt sich nämlich auch darauf, dass es für Schmerzgriffe wie die Nervendrucktechnik generell keine Rechtsgrundlage gebe – jedenfalls nicht, wenn ein Platzverweis gegen eine friedliche Person vollstreckt werden soll.
Als Rechtsgrundlage führte die Polizei Berlin die Vorschriften zum unmittelbaren Zwang, §§ 6 Abs. 1, 12, 15 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes (VwVG) an. Die Idee des unmittelbaren Zwangs ist, dass eine Handlung, die nur der Betroffene selbst durchführen kann – hier: das Verlassen der Fahrbahn – durch Gewalt erzwungen wird, wenn er der Aufforderung nicht nachkommt. Die Zwangsmaßnahme orientiert sich unmittelbar am Handlungsziel: ein falsch geparktes Auto wird abgeschleppt und versetzt, ein Mensch wird weggetragen oder weggeschoben.
Nach der Argumentation in der Klagebegründung geht der Schmerzgriff darüber hinaus, weil er nicht den Abtransport, sondern den Schmerz in den Vordergrund stelle. So liege kein unmittelbarer, physischer Zwang vor, sondern ein mittelbarer, der physisch ausgeübt werde (Drücken der Schmerzpunkte), aber psychisch wirken solle: Der Betroffene solle durch den Schmerz dazu veranlasst werden, die Handlung doch selbst zu vollziehen, um dem (andauernden und ggf. weiteren) Schmerz zu entgehen.
Wenn sich das VG Berlin dieser Argumentation anschließen sollte, könnten Schmerzgriffe, die nicht gesetzlich geregelt sind, aber in der polizeilichen Praxis eine besondere Maßnahmenkategorie bilden, generell als Mittel zur Vollstreckung eines Platzverweises ausscheiden. Dies würde nur dann nicht gelten, wenn sich der Betroffene mit Händen und Füßen wehrt, sodass er durch die Schmerzzufügung ruhiggestellt werden muss. Da ein solches Wehren aber bereits den Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) erfüllt, stünde den Beamten hier ohnehin ein Notwehrrecht (§ 32 StGB) zu, das auch eine leichte Gewaltanwendung rechtfertigt; einer polizeirechtlichen Ermächtigung bedürfte dann es nicht.
Ein solcher Fall lag hier aber wohl nicht vor, jedenfalls lässt das veröffentlichte Video keine aktiven, über das schmerzbedingte Sich-Krümmen hinausgehende Gewalthandlungen des Betroffenen erkennen. Daher ist durchaus möglich, dass das VG Berlin diese grundlegende Frage offenlassen und allein auf den Einzelfall abstellen wird.
Verletzungen der Versammlungsfreiheit, EMRK und UN-Antifolterkonvention?
Durch den Schmerzgriff als unverhältnismäßige Maßnahme sieht sich der Kläger dabei nicht nur in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), sondern auch der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) verletzt. Die realistische Gefahr, unter Anwendung von Schmerzgriffen von der Straße geschafft zu werden, schrecke potenzielle Teilnehmende von Vornherein davor ab, Spontanversammlungen wie die Straßenblockaden der "Letzten Generation" abzuhalten.
Ferner sieht die Klagebegründung in der Anwendung der Nervendrucktechnik eine "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Schließlich erfülle die vorsätzliche Schmerzzufügung durch die Polizei zum Zwecke der Willensbeugung auch die Definition der Folter im Sinne des Art. 1 Abs. 1 der UN-Antifolterkonvention.
Kein Eilrechtsschutz gegen Schmerzgriffe
In seinem Eilbeschluss vom Mai setzte sich das VG Berlin mit diesen Fragen nicht auseinander, da es den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz bereits für unzulässig hielt. Da die angegriffene Maßnahme bereits abgeschlossen (erledigt) war, komme nur ein nachträglicher Feststellungsantrag in Betracht. Dieses Begehren könne im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Eine besondere Eilbedürftigkeit wegen Wiederholungsgefahr lehnte das VG ab.
Es betonte dabei, dass Wiederholungsgefahr zwei Voraussetzungen habe: Es müsse die "konkret absehbare Möglichkeit" bestehen, dass der Betroffene erstens "in naher Zukunft" erneut in eine Situation wie die beanstandete kommt und dass die Behörden zweitens erneut wie beanstandet handeln. Im vorliegenden Fall scheiterte es nicht an der ersten Voraussetzung – der Mann hatte angekündigt, auch weiterhin Straßen blockieren zu wollen –, sondern an der zweiten. Es sei nicht hinreichend dargelegt worden, dass die Polizei wieder Schmerzgriffe anwenden würde, so das VG Berlin.
Dass der Antragsteller im Eilverfahren gleich acht vergleichbare Fälle vorgebracht hatte, ließ das VG nicht gelten. Es setzte diese ins Verhältnis zur Gesamtzahl der anwesenden und am Ende weggetragenen Protestierenden: Acht aus Zweihundert – das entspricht vier Prozent – ist dem VG Berlin offenbar zu wenig für die Annahme einer Wiederholungsgefahr.
Wann in dem am Dienstag rechtshängig geworden Hauptsacheverfahren verhandelt wird bzw. ein Urteil ergeht, lässt sich derzeit noch nicht absehen. LTO wird darüber weiter informieren.
Letzte-Generation-Mitglied verklagt das Land Berlin: . In: Legal Tribune Online, 27.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52086 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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