Polizeimaßnahmen schon bei "drohender Gefahr", Präventivgewahrsam ohne Anwalt und DNA-Analysen – Bayern plant sein Polizeigesetz wieder zu entschärfen – oder doch nicht?
Noch bevor über das verfassungsrechtliche Schicksal des umstrittenen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) in Bayern entschieden wird, bekommt das Gesetz schon mal eine Reparatur. Am Mittwoch fand dazu eine Anhörung im Landtag statt. Es geht um die kritischen Kernpunkte der Verschärfung im Polizeirecht, die bei der Verabschiedung 2018 tausende Menschen auf die Straßen brachten: Der Begriff der "drohenden Gefahr", Präventivgewahrsam ohne Anwalt, DNA-Analysen, Bodycams in Wohnungen.
Aus mehreren kritischen Stellungnahmen der Experten lässt sich zwischen den Zeilen lesen, dass sie die Nachbesserungen nicht für echte inhaltliche Entschärfungen, sondern eher für sprachliche Nivellierungen halten.
Die CSU hatte in der vergangenen Legislaturperiode das Gesetz aufgrund ihrer damals absoluten Mehrheit im Alleingang beschließen können. Grüne und SPD hatten in der Folge gegen das Gesetz Verfassungsklagen, beim Verfassungsgerichtshof bzw. in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht, eingereicht, die Urteile stehen aber noch aus. 2019 hatte der Bayerische Verfassungsgerichtshof einen Eilantrag im Zusammenhang mit einer Popularklage gegen das PAG abgelehnt.
Droht mit "drohender Gefahr" ein Umbruch im Polizeirecht?
Die Klagen richten sich zum einen gegen die Einführung der "drohenden Gefahr" – ein Begriff der regelrecht zum Dreh- und Angelpunkt des Polizeirechts wird. Denn er bestimmt den Zeitpunkt, ab dem die Polizei mit ihren Maßnahmen einsetzen darf. Und damit wird auch ganz grundsätzlich für das Polizeirecht entschieden, wie weit es ins Vorfeld konkreter Gefahren und Straftaten vorverlagert wird. Eigentlich ist der Begriff nicht neu, das Bundesverfassungsgericht hatte ihm schon 2008 Konturen verliehen. Doch im bayerischen Polizeigesetz von 2018 kommt er quasi flächendeckend zur Anwendung: Für eine Reihe von Standardmaßnahmen – von der Postsicherstellung bis hin zur Telekommunikationsüberwachung – wurde er zur Voraussetzung für polizeiliches Handeln gemacht.
Der Begriff sei zu unbestimmt und es drohe ein Paradigmenwechsel im Polizeirecht, wenn die Polizei derart weit im Vorfeld tätig werden darf, so die Kritikerinnen und Kritiker aus Opposition und Rechtswissenschaft. Der ehemalige Staatsanwalt und SPD-Fraktionsvorsitzende im Landtag Horst Arnold sagte im Februar die unklaren Rechtsbegriffe gingen letztlich zulasten der Beamtinnen und Beamten, die sie im Einsatz anwenden müssten.
Darauf will das Reparaturgesetz nun mit klareren Definitionen antworten. Eingefügt werden soll ein neuer Paragraf 11a: Danach kann die Polizei einschreiten, "wenn im Einzelfall das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet oder Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind (drohende Gefahr)". Viel sprachlicher Aufwand, um den Gefahrenbegriff handhabbar und bestimmbarer zu machen. Bemerkenswert ist auch, dass bei drohender Gefahr eben nicht nur sogenannte Gefahrerforschungmaßnahmen, sondern auch weitergehendere Eingriffe erlaubt sind, die sich nicht allein auf die Aufklärung beschränken müssen.
Für Kritikerinnen und Kritiker bleiben auch angesichts der Nachbesserungen verfassungsrechtliche Zweifel. So sieht etwa der Staatsrechtler Prof. Dr. Christoph Degenhardt von der Uni Leipzig in seiner Stellungnahme die Vorbehalte aus Wissenschaft und Verfassungsgerichtsrechtsprechung "nicht entkräftet". Auch der Straf- und Sicherheitsrechtler Prof. Dr. Marc Zöller von der LMU München zeigte sich alles andere als begeistert von den Plänen. "Aus meiner Sicht ist es enttäuschend, dass die Bayerische Staatsregierung an dem verfehlten Begriff der „drohenden Gefahr“ als Einsatzschwelle für eine erhebliche Zahl präventivpolizeilicher Eingriffsbefugnisse festhalten will", so Zöller. Verstoßen werde gegen das Rechtsstaatsprinzip, die entsprechenden Regelungen seien damit "insgesamt verfassungswidrig".
Zufrieden zeigte sich dagegen der Staatsrechtler Prof. Dr. Markus Möstl von der Uni Bayreuth, er sieht die Beibehaltung der "drohenden Gefahr" im bayerischen Polizeirecht auf "gesichertem Verfassungsboden".
Das Ende des unbegrenzten Präventivgewahrsams ohne Anwalt?
Die Kritik an dem Reparaturgesetz setzt sich auch beim sogenannten Präventivgewahrsam fort. Mit der Polizeirechts-Novelle aus 2018 wurden beim Gewahrsam neue Tatbestände aufgenommen und die bis dahin geltende absolute gesetzliche Obergrenze von 14 Tagen, bis zu der eine Ingewahrsamnahme möglich ist, aufgehoben. Damit konnte ein Mensch theoretisch unbegrenzt in Präventivhaft genommen werden – und zwar auch wer eine Ordnungswidrigkeit begangen hat. Das Nachbesserungsgesetz begrenzt die Haft nun wieder auf einen Monat, kann aber auf insgesamt zwei Monate verlängert werden.
Möstl zeigt sich auch mit dieser Regelung verfassungsrechtlich zufrieden und vertraut dabei vor allem auch auf den vorgesehenen Richtervorbehalt. Sein Kollege, Staatsrechtler Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz von der Uni Würzburg, hat ebenfalls "keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen, sondern allenfalls rechtspolitische Bedenken".
Dagegen schätzt Prof. Dr. Ralf Poscher vom Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität schätzt die Regelung als "weiterhin verfassungswidrig und konventionswidrig" ein. Sowohl die Anknüpfung an die Begehung von Ordnungswidrigkeiten als auch die Dauer des Gewahrsams seien problematisch. Auch Zöller hält die mögliche Dauer der Freiheitsentziehung für "nach wie vor zu hoch gegriffen" und verweist dabei auf die erst kürzlich neu eingeführte Präventivhaftregelung im Nachbarland Baden-Württemberg. Dort gilt eine Höchstfrist von zwei Wochen. "Warum eine solche Maximaldauer nicht auch jenseits der Landesgrenze in Bayern ausreichen soll, um Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, erläutert der Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung nicht", kritisiert der Münchner Hochschullehrer.
Zöller weist noch auf einen weiteren Punkt, der bei der Einführung für Aufregung sorgte: Wer in Bayern in Präventivhaft genommen wird, für den stellt das Gesetz nicht verpflichtend einen Strafverteidiger zur Seite. Betroffene könnten also im schlimmsten Fall in Haft verschwinden, ohne dass darüber etwas bekannt wird. "Diese schnelle und diskrete Vorbeugehaft schafft eine neue Gefahr", befürchtete der Münchner Strafverteidiger Hartmut Wächtler 2018 anlässlich eines Vorfalls in einem Schweinfurter Ausländerwohnheim.
Das Nachbesserungsgesetz sieht nun vor, für die Dauer des Gewahrsams allen, die keine Anwältin oder einen Anwalt haben, einen solchen von Amts wegen zu bestellen. Zöller hält das für nicht ausreichend. Denn für die Dauer heiße eben nicht schon zum Zeitpunkt, wenn ein Richter über den Gewahrsam entscheiden muss. "Dies ist aber für den von der Gewahrsamsanordnung Betroffenen gerade der neuralgische Zeitpunkt. Da sich hier sein Schicksal - Freilassung oder Inhaftierung - für zunächst bis zu einem Monat entscheidet, ist anwaltlicher Beistand gerade in dieser Phase von besonderer Bedeutung."
DNA-Analyse und Bodycams
Umstritten war bei seiner Einführung in das Polizeigesetz auch die DNA-Analyse, ein Instrument, das vor allem aus der Verbrechensbekämpfung der Strafverfolgung, aber nicht der Gefahrenabwehr bekannt ist. Auch aufgrund Zweifel an der praktischen Nutzbarkeit des Verfahrens in eiligen Gefahrenabwehrfällen plädieren mehrere Experten für eine Streichung der Vorschrift.
Der Gesetzentwurf wirbt auch damit, dass er für den Einsatz von Bodycams in Wohnungen nun ein neuer Richtervorbehalt eingefügt werde – allerdings wird der nicht für den Einsatz selbst, sondern erst für die Verwertung der durch den Bodycam-Einsatz erlangten Erkenntnisse vorgesehen. Ein feiner Unterschied, den etwa Zöller oder auch Poscher kritisieren.
Am Ende werden die Verfassungsgerichte entscheiden
In dem Nachbesserungsgesetz wird immer wieder auf die Empfehlungen einer Expertenkommission verwiesen, die das Land nach Verabschiedung des Gesetzes 2018 eingesetzt hatte. Das Gremium sollte das Gesetz überprüfen – allerdings ausdrücklich wegen der laufenden Gerichtsverfahren nicht verfassungsrechtlich. Wenn der Gesetzentwurf betont, dass er die Empfehlungen der Kommission umgesetzt habe, scheint das verfassungsrechtlich also weniger wert als man auf den ersten Blick denken könnte.
Die Auseinandersetzung um das bayerische Polizeigesetz wird auch in anderen Bundesländern mit Interesse beobachtet werden. Dürfte sich doch im Freistaat entscheiden, in welche Richtung andere Landespolizeigesetze entwickelt werden können.
Nach den Plänen der Landesregierung sollen die Änderungen zum Sommer in Kraft treten. Darüber was davon ausreichend entschärft und was möglicherweise als verfassungswidriger Rest bleibt, werden am Ende Landesverfassungsgericht und Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen. Und für die Kläger, die sich gegen die Vorversion des PAG wenden, würde durch das Nachbesserungsgesetz die Notwendigkeit entstehen, ihre ursprünglichen Verfassungsklagen anzupassen oder noch einmal neu einzureichen.
Insofern ist das angestrengte Gesetzgebungsverfahren ein politisch interessanter Schachzug, bringt er doch die Kläger in Anpassungsnöte. Ob die Opposition neue Klagen einreichen werden, könnte sich schon bald abzeichnen. Als nächstes wartet auf den Entwurf die 2. Lesung im bayerischen Landtag. Und bei der verfassungsrechtlichen "Meinungsverschiedenheit" als eigene Klageform in Bayern, setzt der Verfassungsgerichtshof voraus, dass ein Streit über die Verfassungsmäßigkeit schon im Gesetzgebungsverfahren erkennbar geworden sein muss. Dafür wäre das Plenum als nächstes eine geeignete Bühne.
Anhörung im Landtag: . In: Legal Tribune Online, 19.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45008 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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