Darf man ein Passagierflugzeug abschießen, wenn Terroristen es in ihre Gewalt gebracht haben und ein Attentat planen? Über diese für Deutschland bislang zum Glück rein hypothetische Frage hat das BVerfG in den letzten Jahren mehrfach geurteilt. Nun hat die Bundesregierung das Thema auf der Agenda, sie will die Entscheidungskompetenz auf den Verteidigungsminister übertragen. Robert Glawe kommentiert das Vorhaben.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sorgte im August 2012 für Schlagzeilen, als es sich mit einer seltenen Plenarentscheidung zum Streitkräfteeinsatz im Innern zu Wort meldete. Auslöser war die Frage, mit welchen Maßnahmen einer durch Terroristen mittels Flugzeugentführung herbeigeführten Luftnotlage begegnet werden dürfe. Hierzu galt vormals eine sehr restriktive Linie, wonach der Einsatz von spezifisch militärischen Waffen im Katastrophennotstand selbst dann verfassungswidrig wäre, wenn dadurch keine Unbeteiligten betroffen würden.
Davon distanzierte sich Karlsruhe 2012, wenn auch sehr behutsam. Im Sinne einer wirksamen Gefahrenabwehr dürfe die Verwendung spezifisch militärischer Mittel nicht vollends ausgeschlossen werden. Gleichwohl seien durch das Erfordernis eines besonders schweren Unglücksfalls enge Grenzen gesetzt. Dieser erfasse nur "ungewöhnliche Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes". Eine Schutzlücke bei der Abwehr von besonders schweren Unglücksfällen, die weder die sehr hohen Anforderungen des Art. 87a Abs. 4 GG (Einsatz im Inneren Notstand) erreichen noch einen Fall der Verteidigung im Sinne von Art. 87a Abs. 2 GG darstellen, blieb somit bestehen.
Befragung des Bundestags im Eilfall nicht praktikabel
Ein fader Beigeschmack blieb auch hinsichtlich der Frage, wer im Falle der Luftnotlage die gebotenen Maßnahmen auslösen dürfe. Dass sich die Richter nicht gegen den ausdrücklichen Wortlaut der Verfassungsurkunde stellen wollten, kann man ihnen allerdings kaum vorwerfen. Art. 35 Abs. 3 GG fordert die Beschlussfassung des gesamten Bundeskabinetts über einen Einsatz der Streitkräfte. Das Ergebnis einer solchen Befragung käme aber im akuten Notfall, wenn etwa ein gekapertes Passagierflugzeug auf eine Stadt zusteuert, fast mit Sicherheit zu spät.
Daher gaben die Karlsruher Richter in ihrem Beschluss auch einen Fingerzeig in Richtung Berlin, diese Festlegung im Wege der Verfassungsänderung zu überwinden. Nun scheinen jene, die mit dem Erfordernis der Kollegialentscheidung haderten, ein gutes Stück voranzukommen: Übereinstimmenden Medienberichten zufolge, die zwischenzeitlich von Amtsseite bestätigt wurden, arbeitet das in dieser Sache federführende Bundesministerium des Innern an einem Referentenentwurf für die Änderung von Art. 35 GG. In zeitkritischen Notsituationen sollten danach auch der Verteidigungsminister bzw. die Verteidigungsministerin Einsatzentscheidungen treffen dürfen.
Revidierbare Maßnahmen auch ohne ministeriellen Segen?
Dieser Schritt würde den hypothetisch anmutenden Fall einer Luftnotlage nach dem Muster von 9/11, die über dem dicht besiedelten Deutschland mit eben jenen "spezifisch militärischen Mitteln" (Eurofightern) zu bewältigen wäre, ein Stück realistischer erscheinen lassen. Ein kleines Stück. Denn wo eine Kabinettsentscheidung im Eilfall völlig unpraktikabel ist, könnte selbst eine Entscheidung durch den Minister die äußerst knappen zeitlichen Grenzen strapazieren.
Im Zuge der rechtspolitischen Beratung zur Verfassungsänderung sollte daher die Frage nicht ausgespart werden, ob eine Delegation der erwogenen ministeriellen Befugnis auf die nachgeordneten Kommandostrukturen der Luftstreitkräfte verantwortbar ist. Hier ist vorstellbar, in einem abgestuften Verfahren den enorm knappen Entscheidungsfristen Rechnung zu tragen: Das Aufsteigen der für den Notfall bereitstehenden Alarmrotte bleibt einer taktischen Entscheidung vorbehalten, der militärische Befehlshaber kann zumindest vorläufige – und wieder revidierbare – Maßnahmen treffen.
Verfassungswidriger Militäreinsatz rettete einst Hunderte Menschenleben
Inwiefern sich ein Abschussbefehl im Falle der Nichterreichbarkeit der Ressortleitung delegieren ließe, muss in Zeiten permanenter Kommunikationsmöglichkeiten sicher restriktiv beurteilt werden, sei die Bedrohung auch noch so unmittelbar. Nachgelagert könnten zumindest ein nachträgliches Befassungsrecht der Bundesregierung und ein Aufhebungsrecht von Bundestag und Bundesrat helfen, das Restrisiko eines Missbrauchs auszuschließen.
Diese nun wieder diskutierte Kompetenzfrage offenbart den Wesenszug staatlicher Gefahrenabwehr: Die Courage und Unbeirrtheit des Einzelnen, der unversehens in die politische Entscheidungsverantwortung gestellt wird, vermag auch ein Feinschliff der Verfassungsurkunde nicht zu beflügeln. Das gilt für die Extremfälle von Naturkatastrophen und Terrorabwehr gleichermaßen. Legendär bleibt der klar verfassungswidrige, gleichwohl Hunderte Menschenleben rettende Notruf des Hamburger Innensenators Helmut Schmidt nach allen Militärhubschraubern Norddeutschlands in der Hamburger Sturmflutnacht 1962.
Der Autor Dr. Robert Glawe ist Rechtsanwalt in München und Reserveoffizier der Bundeswehr (Major d.R.). Er veröffentlicht regelmäßig zu sicherheitsrechtlichen Themen. Der Beitrag gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
Bundesregierung will Grundgesetz ändern: . In: Legal Tribune Online, 10.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11655 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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