OVG NRW zum Arztrecht: Betrug bef­leckt Beruf­sehre

Gastbeitrag von Hermann Horstkotte

03.07.2019

Ein Arzt und notorischer Abrechnungsbetrüger darf bis zum endgültigen Strafurteil weiter praktizieren, entschied das OVG NRW. Hermann Horstkotte zu einem Urteil, das der ärztlichen Fachaufsicht überhaupt nicht passt.

Die Vorwürfe sind heftig: Wegen Betrugs in dreißig Fällen entschied das Landgericht Köln vor wenigen Monaten gegen einen Arzt auf drei Jahre und neun Monate Gefängnis und wegen Beihilfe zum versuchten Betrug weiterhin auf ein Jahr und vier Monate Haft. Der Angeklagte hatte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für gar nicht existierende Patienten ausgestellt. Treibende Kraft waren dabei angeblich zwei Kollegen in einer Gemeinschaftspraxis. Laut Krankenkasse soll das Trio in Hunderten von Fällen rund 800.000 Euro Krankengeld kassiert haben. Eine Systemlücke der elektronischen Gesundheitskarte machte es möglich.

Wiewohl die Landgerichtsurteile noch nicht rechtskräftig sind, ordnete die zuständige Fachaufsicht - an Rhein und Ruhr ist das die Bezirksregierung - schon einmal den vorläufigen Entzug der Berufszulassung an, also das "Ruhen der Approbation". Das ist nach der amtlichen Bundesärzteordnung möglich, wenn gegen den Betroffenen ein Strafverfahren läuft, das am Ende seine "Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit" zur Berufsausübung feststellen könnte. Mit dem gleichen Verbot müssen übrigens auch Rechtsanwälte rechnen, wenn ihnen im gerichtlichen Verfahren der Berufsausschluss droht (§ 150 BRAO).

OVG: "Nur" Betrug, aber kein Behandlungsfehler

Der Arzt zog gegen den vorläufigen Entzug seiner Approbation vor das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster und bekam dort Recht (Urt. v. 04.06.2019, Az. 13 A 897/17). Für ein unaufschiebbares Berufsverbot im öffentlichen Interesse und seinen Vorrang vor der grundgesetzlich geschützten Berufsfreiheit hätte die Bezirksregierung "konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter" aufzeigen müssen, entschied das OVG. Doch habe sie keine solchen Patienteninteressen dargelegt, die ein sofortiges Vorgehen gebieten könnten. 

Die Richter befanden in ihrem Urteil ebenso: "Die Straftaten berühren weder das unmittelbare Arzt-Patientenverhältnis, noch werden medizinische Kompetenzen des Klägers in Frage gestellt." Das unterscheidet den Abrechnungsbetrug wie in diesem Fall etwa von groben, den Leib und das Leben gefährdenden Behandlungsfehlern eines Narkosearztes. Bei finanziellen Delikten, die naturgemäß kein Patientenschicksal gefährden, darf der verdächtige Kollege nun wenigstens bis zum endgültigen Abschluss eines der Strafverfahren uneingeschränkt weiterpraktizieren - ganz im Dienste der "Volksgesundheit", von der das OVG spricht.

Das Problem mit der "Arztwürde"

Ärzte müssen nach ständiger Rechtsprechung "peinlich genau " mit den privaten oder gesetzlichen Kassen abrechnen, gemäß voluminösen und mithin besonders streitanfälligen Vorschriften. Öfter kommt es zu strafbaren Fehlern, weil es an der nötigen Sorgfalt fehlt. Manches spielt auch in der Grauzone, wenn umständehalber etwa der Oberarzt die vereinbarte Chefarztbehandlung übernimmt.

Demgegenüber kam im vorliegenden Fall offenbar eine besonders hohe Dosis krimineller Energie zur Wirkung. Nach Auffassung der Bezirksbehörde hatte sich der Arzt damit für die Berufsausübung "unwürdig" gemacht. Nur: Was ist im Zeitalter der allgemeinen Menschenwürde die besondere Würde des Arztes? Das klingt noch nach den gruppenbezogenen "Würden" und "Würdenträgern" älterer, hierarchisch gegliederter Gesellschaften.

Die hatte die Bezirksregierung offenbar auch im Hinterkopf, indem sie die Würde als exklusives Sozialprestige der Berufsgruppe in den Augen aller anderen versteht. Um es generalpräventiv zu schützen, wollte die Aufsichtsbehörde im vorliegenden Fall ein Exempel statuieren – und scheiterte, wie gezeigt.

Berufsfreiheit vor Berufsimage

Heute aber ist Würde ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Bedeutung erst an Tatbeständen für das Gegenteil, nämlich der "Unwürdigkeit", greifbar wird. Einschlägig ist die Bundesärzteordnung, wonach der Arztberuf "kein Gewerbe" ist, das der marktüblichen Gewinnerzielung dient. Diese wird vielmehr durch die Gebührenordnung begrenzt. Schon krumme Geschäfte eines gewerbetreibenden Kaufmanns sind natürlich verwerflich - umso verwerflicher Betrügereien eines Arztes.

Ein sofortiges Berufsverbot vor bestandskräftigem Strafurteil ist aber immer eine Ermessensentscheidung, die entsprechend der grundgesetzlich geschützten Berufsfreiheit die wirtschaftlichen Schäden für den Betroffenen abwägen muss. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht schon vor Jahren entschieden, dass Unwürdigkeit Voraussetzung für sofortigen Vollzug ist, dafür aber allein noch nicht ausreicht. Die Frage der Ehre duldet vielmehr Aufschub, selbst wenn darunter das Ansehen der Berufsgruppe leidet.

Ausnahme bei Rückfallrisiko

Unaufschiebbar ist ein Eingriff erst dann, wenn eine konkrete Gefahr für Gemeinschaftsgüter, in diesem Fall ein Schaden für die Krankenkasse und damit das Gesundheitssystem, insgesamt zu befürchten ist. Damit käme die "Unzuverlässigkeit" des Berufsträgers ins Spiel. Im konkreten Fall sahen die Münsteraner Richter allerdings auch keine Wiederholungsgefahr mit "unzuverlässigen" Abrechnungen: Der Arzt habe sich mittlerweile aus der Gemeinschaftspraxis verabschiedet und lebe auch in finanziell geordneten Verhältnissen.

Trotzdem spannend: Das OVG lässt gleichwohl die Revision zu. Denn bislang sei höchstrichterlich nicht geklärt, aber eben doch klärungsbedürftig, ob ein sofortiger Entzug der Approbation selbst dann vorbeugend zulässig sein soll, wenn vom Betroffenen offensichtlich keine Wiederholungsgefahr ausgehe. Oder anders gefragt: Kann ein abschreckendes Berufsverbot den Einzelfall überwiegen?

Zitiervorschlag

OVG NRW zum Arztrecht: . In: Legal Tribune Online, 03.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36241 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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