Im NSU-Prozess drängt der Vorsitzende Richter erfolglos auf ein Ende der Beweisaufnahme. Selbst ein starker Richter ist in einigen Phasen des Prozesses oft mehr Getriebener denn Entscheider. Die Gründe erklärt Lorenz Leitmeier.
"Richter im NSU-Verfahren drängt auf Ende der Beweisaufnahme" liest man jedenfalls seit Dezember 2016, an die "Endphase" oder gerne auch "Nachspielzeit" dieses Prozesses hat man sich schon lange gewöhnt. Und die Äußerung des Vorsitzenden Richters, die Beweisaufnahme werde inzwischen "nur noch von Verfahrensbeteiligten gesteuert", klingt nicht so, als habe er viel Kontrolle über das, was geschieht.
In diesem Stadium des Verfahrens ist das allerdings nicht ungewöhnlich, systematisch sogar unvermeidlich, und im Grunde: auch gut so.
Strafverfahren: Subjekte, überall Subjekte
In einem fairen und rechtsstaatlichen Strafverfahren ist der Angeklagte Subjekt, er kann auf den Prozess Einfluss nehmen und muss nicht nur duldend ertragen, dass "über ihn gerichtet" wird. Das ist von der Strafprozessordnung (StPO) so gewollt und folgt direkt aus der Menschenwürde nach Art. 1 Grundgesetz (GG), dem Urbild der Grundrechte.
Am wichtigsten sind für den Angeklagten das Fragerecht und das Beweisantragsrecht: Er darf, selbst oder über seinen Verteidiger, die Zeugen und Sachverständigen befragen, außerdem Anträge stellen, dass Zeugen und Sachverständige gehört, Dokumente gelesen oder Beweise gesichtet werden. Nur so kann er sich ordentlich verteidigen – und wer wollte das nicht, wenn man ihm schlimmste Verbrechen vorwirft?
Neben dem Angeklagten gibt es noch die Nebenkläger. Auch die sind in einem Strafverfahren selbstbestimmte Subjekte und nicht bloß passive Beteiligte, dürfen also ihre Interessen eigenverantwortlich wahrnehmen, Beweisanträge stellen und auf eine umfassende Beweisaufnahme hinwirken – und wer wollte nicht die ganze Wahrheit erfahren, wenn er Opfer von Straftaten wurde?
Keine gemeinsamen Grenzen
Und so kann in einem Strafverfahren das Gericht schon lange keine Fragen mehr haben, andere aber sehr wohl. Dies kommt regelmäßig gegen Ende der Beweisaufnahme vor, wenn das Gericht "eigentlich durch" ist und aus seiner Sicht alles aufgeklärt wurde, was aufzuklären war, die Angeklagten und Nebenkläger aber noch einiges wissen wollen. Die Prozessführung scheint bei den Verfahrensbeteiligten zu liegen, und der Richter sitzt oben auf seiner Bank, leitet formal die Sitzung, fühlt sich aber auf hoher See – in einem Schlauchboot. Ein Richter am Amts- oder Landgericht übt sich hier in Geduld, messbar in Minuten oder vielleicht mal Tagen; und manchmal kommt es ja wirklich vor, dass noch Neues ans Licht kommt.
Aber so wie der NSU-Prozess generell die Grenzen der Strafprozessordnung testet, und ein Amtsrichter über dieses Verfahren nur schreiben kann wie ein Mathematik-Student über die Millennium-Probleme, sprengt das Verfahren auch in diesem Punkt die Dimensionen : Es gibt fünf Angeklagte, 480 Seiten Anklage, über 80 Nebenkläger, über 500 Zeugen, inzwischen 370 Verhandlungstage – wie soll hier das Informationsbedürfnis synchron enden? Da kann das Gericht dann ohne weiteres bereits seit Monaten keine Fragen mehr haben, und trotzdem werden täglich welche gestellt. Aber wo ist die Grenze? Immerhin leitet das Gericht die Verhandlung. Wie lange muss es also zusehen, besser: zuhören? Und was kann es tun, um die Kontrolle zu gewinnen?
Einfluss von Richtern auf die Verhandlung: . In: Legal Tribune Online, 05.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23356 (abgerufen am: 06.11.2024 )
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