Das OLG München hat das NSU-Urteil zunächst nur an Verteidiger und Staatsanwaltschaft zugestellt. Die Nebenkläger-Anwältin Antonia von der Behrens kritisiert das und erklärt, warum sich ihre Mandanten mehr Aufklärung erhofft hatten.
LTO: Frau von der Behrens, Sie vertreten im NSU-Prozess gemeinsam mit Kollegen die Familie des 2006 ermordeten Mehmet Kubașık. Hat Ihnen das Oberlandesgericht (OLG) München inzwischen das Urteil übermittelt, das seit voriger Woche bei der Geschäftsstelle liegt?
Antonia von der Behrens: Nein, wir haben das Urteil noch nicht erhalten. Und das ist völlig unverständlich, weil es der Verteidigung und der Bundesanwaltschaft schon zugestellt wurde. Es gibt überhaupt keinen Grund, die Zustellung an die Revisionsführer und die Übersendung an die Nebenklage zeitversetzt zu machen. Das führt dazu, dass wir aus der Presse erfahren, was in diesem Urteil stehen soll. Wir können aber unsere Mandanten nicht dazu unterrichten und wir können auch nicht öffentlich deutlich machen, wie wir dazu stehen.
Das OLG hat am 21. April kurz und knapp erklärt, dass das Urteil einen Tag vor Ablauf der Frist bei der Geschäftsstelle hinterlegt wurde – und dass es 3.025 Seiten lang ist. Diese inhaltsleere Mitteilung der Seitenzahl prägte dann die Berichterstattung. Kurz darauf hat sich die Verteidigung zu Wort gemeldet und erklärt, die Mittäterschaft von Beate Zschäpe ließe sich so nicht begründen und der Bundesgerichtshof werde das sicherlich aufheben. Wir können bei alledem die ganze Zeit nur zuschauen.
Was erhoffen sich denn Ihre Mandanten von der Urteilsbegründung?
Leider muss ich sagen, dass sich viele Nebenkläger vermutlich gar keine großen Hoffnungen machen. Ich weiß, dass Elif Kubașık, die Witwe von Mehmet Kubașık, schon während der mündlichen Urteilsverkündung den Saal verlassen hat. Es war für sie einfach nicht zu ertragen. Das Gericht ist auf das Leid, dass die Familien der Opfer erfahren haben, mit keinem Wort eingegangen. Es ist auf die berechtigten Fragen der Angehörigen nicht eingegangen, zum Beispiel nach der staatlichen Mitverantwortung oder unterstützenden Nazi-Strukturen in den Tatortstädten. Stattdessen gab es Jubel und Applaus aus dem Publikum angesichts des Teilfreispruchs für den bekennenden Neonazi André Eminger.
"Zschäpe wollte ganz klar alle Helfer entlasten"
Die Begründung des Gerichts für den Teilfreispruch von André Eminger ist einer der Punkte, die jetzt diskutiert werden. Der 6. Senat geht davon aus, dass Eminger erst ab 2007 zum vollen NSU-Mitwisser wurde. Welchen Eindruck haben Sie in der Hauptverhandlung gewonnen?
Eminger hat geschwiegen und seine Verteidiger haben offensichtlich die Strategie verfolgt, kaum in das Verfahren einzugreifen. Die Beweisaufnahme hat für uns aber ganz klar ergeben, dass er sehr nah an dem NSU-Trio dran war. Er hatte seitdem Abtauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe Kontakt zu diesen. Er hat sie seit dieser Zeit durchgehend unterstützt, war ideologische auf ihrer Linieund hatte enge persönliche Kontakte. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass die drei mit ihren Gehilfen und Unterstützern gesprochen haben, dass ihre Ziele bekannt waren und sie sich nicht abgeschottet haben. Nach meiner festen Überzeugung wusste Eminger als er seine angeklagten Beihilfehandlungen vornahm, von denen er jetzt freigesprochen wurde, wem und wobei er da half. Das war lange vor 2007.
Der 6. Senat stützt sich im Fall Eminger vor allem auf die schriftliche Einlassung von Beate Zschäpe. Halten Sie die für glaubwürdig?
Nein, das waren Schutzbehauptungen, die Zschäpe einerseits dazu dienten ihre eigene Rolle herunterzuspielen, die andererseits auch ganz klar alle Helfer entlasten sollten. Das sieht man mehr als deutlich bei André Eminger und seiner Frau. Die Bundesanwaltschaft hat in ihrem Plädoyer dann auch betont, dass diese Einlassung überhaupt nicht brauchbar sei, soweit sie nicht durch andere Beweise oder Indizien gestützt wird. Die sehe ich aber gerade im Falle von Eminger nicht. Dass er erst im Jahr 2007 Mitwisser wurde, halte ich fürein von Zschäpe in die Welt gesetztes Märchen.
Gehen Sie davon aus, dass die Bundesanwaltschaft die Revision, die sie gegen den Teilfreispruch eingelegt hat, aufrechterhalten wird?
Die Bundesanwaltschaft hat in ihrem Plädoyer mit sehr viel Nachdruck dargelegt, dass alle angeklagten Taten Emingers nachgewiesen worden sind und hat eine Haftstrafe von zwölf Jahren gefordert. Insofern wäre es erstaunlich, wenn die Urteilsgründe jetzt dazu führen, dass die Bundesanwaltschaft ihre Revision zurücknimmt. Zumal ich kaum glaube, dass das Gericht den Teilfreispruch revisionsfest begründen kann.
"Bei Schultze hätte man sich auch Bewährungsstrafe vorstellen können"
Voraussichtlich gehen bis auf Carsten Schultze auch alle Angeklagten in Revision. Warum gab es keine Revision der Nebenklage?
Die meisten Nebenkläger waren nicht rechtsmittelberechtigt, weil die Angeklagten anklagegemäß verurteilt worden sind. Die Nebenklage kann keine Revision einlegen, die sich nur auf das Strafmaß bezieht. Die einzige Ausnahme war die Beihilfe zum versuchten Mord, derer André Eminger angeklagt war. Hier gab es den Teilfreispruch. Da waren aber nur die Nebenkläger revisionsberechtigt, die bei dem Anschlag in der Kölner Probsteigasse verletzt wurden.
Wie bewerten Sie denn das Strafmaß aus Sicht der Nebenklage?
Das Strafmaß stand für unsere Mandanten nicht im Mittelpunkt. Natürlich war es wichtig, dass die Schuld festgestellt wird und eine angemessene Strafe verhängt wird, aber im Mittelpunkt stand immer das Interesse an einer umfassenden Aufklärung.
Viele Nebenkläger fanden es aber verstörend, dass das Gericht in zwei Fällen erheblich unter dem Strafmaß geblieben ist, dass die Bundesanwaltschaft gefordert hatte. Diese hatte für Ralf Wohlleben zwölf Jahre und für Holger Gerlach fünf Jahre Freiheitsstrafe gefordert und das Gericht hat dann Wohlleben zu zehn Jahren und Gerlach zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Carsten Schultze, der wirklich ganz enorm an der Aufklärung mitgewirkt hat und sich vor allem auch den Nebenklägern gestellt hat, der ist entsprechend dem Strafantrag zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. Da hätten sich manche Nebenkläger durchaus auch eine Bewährungsstrafe vorstellen können, weil Schultze offen dazu gestanden hat, was er getan hat und auch wichtige Informationen geliefert hat.
Und was Beate Zschäpe angeht?
Erstaunlich ist, dass Beate Zschäpe als Einzelstrafe für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nur sechs Jahre gekriegt hat, was verhältnismäßig wenig ist, wenn man sich anguckt, was sonst für die Mitgliedschaft in anderen terroristischen Vereinigungen verhängt wird. Das fiel aber letztlich natürlich nicht ins Gewicht, weil Zschäpe eben insgesamt zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde und für zahlreiche Taten auch die besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde.
"Ich befürchte, dass die weiteren Ermittlungen jetzt eingestellt werden"
Welche Aussichten hat die Revision?
Ich bin mir sicher, dass der BGH das Urteil in Bezug auf die Verurteilung Zschäpe bestätigen wird. Und ich glaube auch, dass der 3. Strafsenat, der für die Revisionen in Staatsschutzverfahren zuständig ist, dafür sorgen wird, dass das Verfahren jetzt möglichst schnell beendet wird.
Aber beim Generalbundesanwalt sind auch noch weitere Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem NSU anhängig?
Ja, es gibt insgesamt noch zehn Ermittlungsverfahren im Komplex NSU. Das ist einmal ein Verfahren gegen Unbekannt, in dem zum Beispiel ermittelt wird, woher die Waffen des NSU stammen. Der NSU hatte zwanzig Schusswaffen, drei konnte man zuordnen, bei den übrigen 17 weiß man immer noch nicht, wer sie beschafft hat. Daran sieht man übrigens auch, wie groß das Unterstützerumfeld gewesen sein muss. Außerdem gibt es noch neun Verfahren gegen bekannte mutmaßliche Unterstützer wegen einzelner Unterstützungshandlungen.
Aber ich vermute, diese Ermittlungsverfahren wurden bisher nur aus politischen Gründen offen gehalten. Nachdem das Gericht André Eminger so weitgehend freigesprochen hat, befürchte ich, dass die übrigen Ermittlungen jetzt bald mit Hinweis auf die Urteilsbegründung eingestellt werden. Es ist offensichtlich im allgemeinen Interesse der Sicherheitsbehörden, jetzt schnell mit dem NSU-Komplex abzuschließen.
Die Berliner Rechtsanwältin Antonia von der Behrens vertritt im NSU-Prozess einen Sohn des im April 2006 ermordeten Mehmet Kubașık.
NSU-Urteil III: Nebenklagevertreterin im Interview: . In: Legal Tribune Online, 29.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41458 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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