Keine Auslieferung wegen menschenunwürdiger Umstände in Gefängnissen des Zielstaats - so entscheiden Gerichte nicht selten. Dass das auch für Großbritannien gelten kann, zeigt eine Entscheidung des OLG Karlsruhe. Details von Christian Rath.
Dass Auslieferungen scheitern, weil die Haftbedingungen im Zielland menschenunwürdig sind, ist kein Novum. Doch normalerweise denkt man hier an Staaten in entfernten Erdteilen oder an EU-Staaten wie Bulgarien und Rumänien.
Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe hat Anfang des Jahres jedoch die Auslieferung eines Albaners nach Großbritannien als "derzeit unzulässig" eingestuft - und zwar wegen der dortigen Haftbedingungen (Beschl. v. 10.03.2023, Az.: 301 OAus 1/23). Jan-Carl Janssen, der Freiburger Anwalt, der den Beschluss erstritten hat, geht davon aus, dass es die erste derartige Entscheidung in Deutschland ist.
Ein Albaner soll mit Kokain gehandelt haben
In dem vom OLG entschiedenen Fall ging es um einen Albaner, der in Großbritannien lebte. Die Polizei warf ihm Drogenhandel im großen Stil vor, es ging um fünf Kilogramm Kokain. Außerdem soll er Geld in Höhe von umgerechnet 384.000 Euro gewaschen haben. Es lag ein Haftbefehl des Westminster Magistrates Court gegen ihn vor.
Der Albaner war nach Deutschland gekommen, weil seine Verlobte hier lebte und schwer erkrankt war. Aufgrund eines internationalen Haftbefehls ("red notice" von Interpol) nahm ihn die deutsche Polizei am 28. Dezember vergangenen Jahres vorläufig fest und der Mann landete in Auslieferungshaft.
Anwalt Janssen ist eigentlich Strafverteidiger und kein Auslieferungsspezialist. Aber er kennt sich mit dem britischen Strafvollzug aus. Janssen hat teilweise in Glasgow studiert und schrieb später seine Dissertation zum Thema "Entwicklung, Praxis und kriminalpolitische Hintergründe des Strafvollzugs in England, Wales und Schottland im nationalen und internationalen Vergleich".
Schwachstellen im britischen Gefängniswesen
Entsprechend wusste Janssen, wo die Schwachstellen des britischen Gefängnissystems liegen: chronische Überbelegung, Personalengpässe, Gewalt unter den Insassen. Die Haftanstalten stammen teilweise noch aus dem viktorianischen Zeitalter im 19. Jahrhundert. Die Zellen sind teilweise zu klein, zu dunkel und schlecht belüftet.
Das OLG Karlsruhe zeigte sich von diesen Ausführungen beeindruckt und verlangte von der britischen Seite Garantien für die Einhaltung von Mindestandards gemäß der Europäischen Menschenrechtskovention. Außerdem solle die britische Seite mitteilen, in welchen Gefängnissen der Albaner inhaftiert werden soll und wie seine Haftbedingungen dort konkret aussehen werden.
Da Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU ist, gelten hier nicht mehr die Regeln des Europäischen Haftbefehls, sondern das 2020 zwischen der EU und Großbritannien geschlossene Trade and Cooperatione Agreement (TCA). Danach kann die Vollstreckung eines TCA-Haftbefehls an Bedingungen geknüpft werden. "Liegen stichhaltige Gründe für die Annahme vor, dass eine tatsächliche Gefahr für den Schutz der Grundrechte der gesuchten Person besteht, kann die vollstreckende Justizbehörde gegebenenfalls zusätzliche Garantien für die Behandlung der gesuchten Person nach der Übergabe verlangen, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet", heißt es in Art. 604 lit. c TCA (entspricht Art. LAW.SURR.84 LIT C TCA in der EU-Abl.-Version).
Eine Mail aus Manchester, dann Stille
Am letzten Tag der vom OLG gesetzten Frist kam eine Mail von einer Polizeidienststelle in Manchester, die die Bedenken des Gerichts eher vergrößerte. Sie enthielt keine Garantien, sondern den Hinweis, dass Großbritannien 20.000 neue Haftplätze schaffe, um die Überbelegung zu überwinden. Das Schreiben aus Manchester enthielt auch keine konkreten Informationen zum geplanten Haftort, sondern nur den Hinweis, dass das erste Gefängnis ("reception prison") vermutlich im Großraum London angesiedelt sein werde. Anwalt Janssen machte das OLG sofort darauf aufmerksam, dass im Großraum London auch das mit 160 Prozent besonders überbelegte Gefängnis Wandsworth liegt.
Das OLG fragte daraufhin höflich nach, ob noch konkrete Garantien und Informationen kommen würden - diesmal mit kurzer Frist, denn es handelte sich ja um eine Haftsache. Doch aus Großbritannien kam nichts mehr.
Deshalb beschloss das OLG nach Ablauf der zweiten Frist, dass die Auslieferung des Albaners nach Großbritannien "derzeit unzulässig" sei. Ohne britische Garantien sei angesichts des Zustands des britischen Gefängniswesens eine Auslieferung nicht möglich. Rechtsmittel sind hiergegen keine möglich.
Der Albaner ist wieder frei
Der Albaner wurde umgehend aus der Auslieferungshaft entlassen. Er bekam zwar keine Entschädigung, weil die Bundesrepublik die Haft nicht zu vertreten habe, so das OLG. Doch er ist jetzt wieder ein freier Mann. Eine Strafverfolgung in Deutschland hat er nicht zu befürchten, da es hierfür keinen Anknüpfungspunkt gibt. Weder fanden die vorgeworfenen Taten in Deutschland statt noch hat er die deutsche Staatsbürgerschaft.
Dauerhaft in Sicherheit ist der Albaner allerdings auch nicht. Großbritannien hat die red notice schließlich nicht zurückgenommen. Die britische Justiz könnte später also durchaus einen neuen Versuch unternehmen, die Auslieferung zu erreichen. Anwalt Janssen hat deshalb zunächst darauf verzichtet, an die Öffentlichkeit zu gehen. Einige Monate nach dem Beschluss ist allerdings immer noch nichts passiert. Der bisher unveröffentlichte OLG-Beschluss soll daher demnächst in einer Fachzeitschrift (dem Strafverteidiger, der wie LTO zu Wolters Kluwer gehört) veröffentlicht werden.
Beschluss des OLG Karlsruhe: . In: Legal Tribune Online, 14.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52477 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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