Ein Militärschlag des Irans gegen Israel soll bevorstehen. Ist das zulässig? Darf Israel zurückschlagen? Und kann die Bundeswehr Israel dabei unterstützen? Völkerrechtler Matthias Goldmann mit den Antworten.
LTO: Nach dem tödlichen Anschlag auf den Hamas-Auslandschef Ismail Hanija in Teheran hat der Iran "Vergeltung" angekündigt. Jetzt scheint ein Angriff des Irans auf Israel unmittelbar bevorzustehen. Was sagt das Völkerrecht dazu?
Prof. Dr. Matthias Goldmann: Ein Gegenschlag des Irans wäre ein Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta). Als mögliche Rechtfertigung kommt nur das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 der UN-Charta in Betracht. Voraussetzung dafür wäre ein gegenwärtiger, rechtswidriger, bewaffneter Angriff Israels auf den Iran. Diese Voraussetzung ist aus meiner Sicht hier allerdings nicht erfüllt, deshalb ist der iranische Gegenschlag völkerrechtswidrig.
Aus welchem Grund? Kann man die gezielte Tötung des Hamas-Auslandschefs im Iran, für die Israel verantwortlich sein soll, nicht als bewaffneten Angriff ansehen?
Ja, die Tötung von Ismail Hanija war aus verschiedenen Gründen ein rechtswidriger bewaffneter Angriff. Der Anschlag auf iranischem Gebiet verstößt gegen das gewohnheitsrechtliche Interventionsverbot*. Hanija war kein Vertreter des Irans, sondern der Hamas, auch wenn hier natürlich enge Verbindungen bestehen. Gleichzeitig stellt die gezielte Tötung durch den Luftangriff nach Art und Ausmaß auch einen Verstoß gegen das Gewaltverbot dar.
Außerdem verletzt die Tötung aus meiner Sicht die Regeln des Humanitären Völkerrechts. In einem bewaffneten Konflikt dürfen ja nur Kombattanten und zulässige militärische Ziele angegriffen werden, Zivilisten müssen weitestgehend verschont bleiben. Man kann aber nicht allein aus dem Grund, dass Hanija zur Hamas gehört, darauf schließen, dass er ein zulässiges militärisches Ziel war. Die entscheidende Frage dabei ist, ob jemand militärische Kommandogewalt hat. Auch wenn die Strukturen der Hamas undurchsichtig sind, war Hanija wohl nur das Auslandssprachrohr der Hamas und Teil des Politbüros und hatte gerade keine militärische Kommandogewalt. Solange man nicht objektiv festgestellt hat, dass jemand ein Kombattant, ist, darf er nicht angegriffen werden. Deshalb bin ich der Ansicht, dass dieser Angriff rechtswidrig war.
Aber der Angriff ist nicht mehr gegenwärtig. Jedenfalls deswegen darf der Iran Israel nicht angreifen. Ein Recht auf Vergeltung kennt das Völkerrecht nicht.
"Selbstverteidigung auf akute Situationen begrenzen"
Könnte man hier nicht argumentieren, dass aufgrund der aktuellen Situation und dem andauernden Krieg eine Art "Dauergefahr" besteht?
Es gibt tatsächlich Stimmen, die das Gewaltverbot und damit auch das Selbstverteidigungsrecht weiter verstehen. Sie vertreten die Ansicht, dass die Selbstverteidigungssituation bei so einem schwelenden Konflikt und einem ständigen Hin und Her weitergetragen wird, denn man müsse sich ja irgendwie wehren.
Aus meiner Sicht widerspricht diese Ansicht dem Art. 51 der UN-Charta, der eine Priorität der Maßnahmen des UN-Sicherheitsrats statuiert.
Eine Ausweitung des Selbstverteidigungsrechts birgt die Gefahr der Eskalation – und zwar in der Weise, dass man irgendwann nicht mehr sehen kann, was zulässige Selbstverteidigung und was rechtswidrige Vergeltung ist. Deshalb muss man das Selbstverteidigungsrecht auf akute Situationen begrenzen. Und diese war hier mit der Tötung des Hamas-Auslandschefs abgeschlossen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass Israel nochmal gezielt Hamas- oder Hisbollah-Funktionäre tötet, aber auch nicht unmittelbar zu erwarten. Und eine präventive Selbstverteidigung gibt es nicht.
Es gibt aber auch Stimmen, die gezielte Tötungen von Terroristen für zulässig halten.
Manche Völkerrechtler halten solche "targeted killings" auch auf fremdem Territorium unter Umständen für zulässig. Teilweise sehen sie schon keinen Verstoß gegen das Gewaltverbot, weil es kein Militäreinsatz sei, sondern eher eine Polizeiaktion gegen einen Terroristen. Oder sie argumentieren, dass eine zulässige Verteidigungshandlung gegen einen nichtstaatlichen Akteur vorliegt. Gezielte Tötungen auf dem Staatsgebiet eines anderen Staates – wie hier – verstoßen aber aus meiner Sicht grundsätzlich gegen dessen Souveränität.
"Israel darf sich verteidigen – im Rahmen des Erforderlichen"
Hier kann sich der Iran aus Ihrer Sicht ja nicht auf sein Selbstverteidigungsrecht berufen, sodass der bevorstehende Angriff rechtswidrig wäre. Darf Israel sich dann also seinerseits gegen den Angriff verteidigen?
Wenn man die Ansicht vertritt, die ich hier vertrete, dürfte Israel sich verteidigen – natürlich im Rahmen des Erforderlichen. Denn der Iran begeht einen bewaffneten Angriff und Israel darf sich deshalb dagegen verteidigen. Welche Maßnahmen zulässig sind, hängt dann natürlich von Art und Ausmaß des iranischen Angriffs ab.
Wenn es sich aber um einen kurzen Beschuss handelt, fehlt es danach für einen israelischen Gegenschlag mangels "gegenwärtigen Angriffs" auch an einem Selbstverteidigungsrecht. Nach Abschluss des Angriffs müsste auch Israel die Waffen ruhen lassen?
Ja, das Selbstverteidigungsrecht besteht grundsätzlich nur, solange der Angriff andauert. Wie lange das ist, hängt natürlich vom Einzelfall ab. Je intensiver der Angriff ist, desto länger besteht auch das Selbstverteidigungsrecht. Wenn der Iran Israel mit Raketen beschießt, muss ein klares Signal kommen, dass der Angriff jetzt vorbei ist.
Während Russland den Iran mit Waffen beliefern will, haben die USA Israel "eiserne Unterstützung" zugesagt. Wäre eine solche militärische Unterstützung zulässig?
Grundsätzlich ist die sogenannte kollektive Selbstverteidigung möglich. Andere Staaten dürfen dem Staat, der sich verteidigt, helfen. Natürlich muss diese Unterstützung auf die Verteidigung gegen den jeweiligen Angriff beschränkt sein. Man darf also nicht weitergehen, als die Selbstverteidigung es erfordert.
"Bundeswehreinsatz nicht zielführend"
Deutschland betrachtet die Sicherheit Israels ja als "Staatsräson". Derzeit wird auch über einen Einsatz der Bundeswehr diskutiert, die Meinungen gehen dabei weit auseinander. Wäre ein solcher Einsatz zulässig?
Grundsätzlich gilt in Deutschland ja die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (GG). Art. 87a Abs. 2 GG bestimmt, dass die Bundeswehr außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden darf, wenn das GG dies ausdrücklich zulässt. Eine solche Regelung findet sich in Art. 24 Abs. 2 GG. Demnach kann der Bund sich "zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen". Darunter fällt nicht nur die UN, sondern auch etwa die NATO. Das heißt, man bräuchte – neben einem Bundestagsmandat – entweder einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates oder einen Beschluss auf NATO-Ebene. Ohne einen solchen Beschluss darf Deutschland sich nicht an einem solchen Einsatz beteiligen.
Halten Sie einen Einsatz der Bundeswehr denn für zielführend?
Nein. Zunächst muss man berücksichtigen, dass Israel selbst in den vergangenen Wochen mehrfach unter anderem gegen das Gewaltverbot verstoßen hat. Deshalb sollte man hier auch diplomatisch überlegen, ob man zur weiteren Eskalation beitragen möchte. Und man sollte sich fragen, wie sichergestellt werden kann, dass es bei der Verteidigungshandlung bleibt und keine Vergeltung geübt wird. Derzeit kann man ja auch noch nicht sagen, wie der Gegenschlag des Irans aussehen wird. Die Situation kann auch vorbei sein, bevor die Bundeswehr ausrückt. Dann besteht keine Verteidigungssituation mehr.
Vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Matthias Goldmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Recht an der EBS Universität Wiesbaden sowie Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.
* In einer früheren Version hieß es hier, das Interventionsverbot ergebe sich aus Art. 2 Nr. 7 der UN-Charta. Korrigiert am 07.08.2024, 0:37 Uhr.
Drohender Angriff des Irans auf Israel: . In: Legal Tribune Online, 06.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55161 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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