Das Nachtragshaushaltsgesetz der rot-grünen Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen ist verfassungswidrig. Die Verfassungsrichter in Münster verwarfen, mahnten und warnten vor neuen Schulden. Sebastian Roßner über eine deutliche Entscheidung, politische Gestaltungsspielräume und mögliche Neuwahlen.
Schon im Januar hatte der Verfassungsgerichtshof per einstweiliger Anordnung den Vollzug des Nachtragshaushaltsgesetzes gestoppt und damit dem Antrag der schwarz-gelben Opposition in Düsseldorf vorläufig stattgegeben. Am Mittwoch fiel nun die Entscheidung im Hauptsacheverfahren, mit der die Münsteraner Richter die Verfassungswidrigkeit des Regelwerks fest stellten.
Das angegriffene Nachtragshaushaltsgesetz sah gegenüber dem ursprünglichen Haushaltsentwurf eine weiter gesteigerte Nettokreditaufnahme vor. Ein Teil der Kredite sollte der Bildung von Rücklagen dienen, die nicht auf gesetzlichen Verpflichtungen beruhten, sondern als Vorsichtsmaßnahme für Kosten aus der Umstrukturierung der WestLB geschaffen wurden.
Auch nach einer ausführlichen Prüfung bejahten die Richter in Münster einen Verstoß gegen die Junktimklausel aus Art. 83 S. 2 der Landesverfassung (LV) NRW. Diese Regelung bindet die Aufnahme neuer Kredite der Höhe nach an die im gleichen Zeitraum getätigten Neuinvestitionen, um die Neuverschuldung zu begrenzen und einem Staatsbankrott vorzubeugen. Eine Ausnahme von der Regel gilt nur, wenn die Kreditaufnahme der Abwehr einer Störung des "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" dient.
Und wie so oft steckt hier der Teufel im Detail: Es ist nicht klar, wie ebendieses "gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht" exakt beschaffen ist. Die Verfassungsgerichte von Bund und Ländern hielten sich also bisher bei der Auslegung dieses und ähnlicher Begriffe zurück. Sie verlangten vom Gesetzgeber,,in der Gesetzesbegründung darzulegen, worin eine solche Störung besteht und inwiefern eine erhöhte Kreditaufnahme geeignet sein muss, die Störung abzuwehren.
Verschärfte Darlegungspflichten: "NRW ist arm" reicht nicht aus
Das Urteil des nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshofs (VGH) bleibt dieser Linie verbal treu: Auch die Münsteraner Richter wagen sich nicht mit einer eigenen und justitiablen Definition des "gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" auf dünnes Eis.
Dennoch führt ihr Spruch zu einer merklichen Verschärfung der Lage für Regierung und Parlament: Zunächst stellt das Gericht klar, dass sich die Junktimklausel aus Art. 83 S. 2 LV NRW auch auf Nachtragshaushaltsgesetze bezieht. Der Landesgesetzgeber müsse demnach auch beim Nachtragshaushalt darlegen und beweisen, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört würde, wenn der Kredit nicht aufgenommen würde.
Die Verfassungsrichter lassen offen, ob die nordrhein-westfälische Regierung die behauptete Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch nur ausreichend dargelegt hat. Jedenfalls habe die Gesetzesbegründung keine konjunkturellen Gesichtspunkte aufgezeigt, die erkennen ließen, wie eine erhöhte Kreditaufnahme angesichts einer im zweiten Halbjahr 2010 deutlich verbesserten Wirtschaftslage zur Abwehr einer Störung beitragen könnte.
Auch konkrete arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Maßnahmen, die mit den neuen Krediten finanziert werden sollten, lege die Begründung aus Düsseldorf nicht dar, so der Gerichtshof.
Warnung aus Münster: Gezielte Kreditkontrolle – jetzt und in Zukunft
Da Gericht will also offenbar kontrollieren, ob Kredite gezielt für die Wiederherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgegeben werden. Wenn Münster dieser Linie weiter folgt, kündigen sich schwerere Zeiten für die notorisch klammen Landespolitiker an. Denn zur bloßen Befriedigung allgemeiner politischer Bedürfnisse könnten die unter Berufung auf eine Gleichgewichtsstörung aufgenommenen Mittel dann nicht mehr verwendet werden.
Mit dem Urteil feuern die Verfassungsrichter aber noch einen weiteren Warnschuss in Richtung Düsseldorf ab: Obwohl mit dem festgestellten Verstoß gegen Art. 83 S. 2 LV NRW das Gesetz bereits verfassungswidrig ist, äußert das Gericht darüber hinaus schwere Bedenken gegenüber der vorgesehenen kreditfinanzierten Bildung von Rücklagen, die nicht auf gesetzlichen Verpflichtungen beruhen. Für sich genommen betrifft dieser rechtlich gesehen nicht erforderliche Hinweis nur einen Sonderfall von begrenzter Bedeutung.
Aber Münster nutzt die Gelegenheit, um der Regierung noch einmal den allgemeinen Verfassungsgrundsatz des Wirtschaftlichkeitsgebotes einzuschärfen. Dieser lasse sich auf die Formel bringen, dass festgelegte staatliche Ziele unter minimalem Mitteleinsatz erreicht werden sollen.
Die Verfassungsrichter betonen also das Wirtschaftlichkeitsgebot als Bestandteil der Verfassung geradezu. Der Hinweis scheint deutlich: Die Pflicht, wirtschaftlich zu handeln, ist ein weiteres und universell einsetzbares Werkzeug, um auch künftige Haushalte zu kontrollieren.
Neuwahlen sind wahrscheinlicher geworden
Das bevölkerungsreichste Bundesland erwartete das Urteil aus Münster mit Spannung, seit Tagen wurde in Nordrhein-Westfalen über mögliche Neuwahlen diskutiert.
Diese sind aber auch nach dem erhobenen Zeigefinger aus Münster rechtlich nicht zwingend. Zwar besteht das Problem des Haushaltsgesetzes: Eine Minderheitsregierung muss Mehrheiten für einen Haushalt durch Kompensationsgeschäfte zustande bringen, etwa indem sie politische Vorhaben aus der Wunschliste der Opposition durchzuführen verspricht, um deren Stimmen im Landtag zu gewinnen. Das ist oft teuer - und den Kreditrahmen des Landes hat der VerfGH gerade spürbar beschränkt. Die rot-grüne Regierung kann aber mit Hilfe eines Nothaushaltes nach Art. 82 Nr. 1 LV NRW auch ohne neues Haushaltsgesetz weitermachen.
So weit die rechtliche Situation. Eine ganz andere Frage ist aber der politische Gestaltungsspielraum, der Rot-Grün nach der Münsteraner Entscheidung noch bleibt. Im Rahmen eines Nothaushaltes können nur gesetzliche oder in anderer Weise bereits eingegangene Verpflichtungen erfüllt werden. Einzige Ausnahme sind Vorhaben aus alten Haushaltsgesetzen, die ebenfalls fortgeführt werden dürfen.
Ein möglicher Ausweg aus dieser Selbstnegation der Politik wären Neuwahlen, die eventuell eine parlamentarische Mehrheit für die neue Regierung brächten. Dazu müsste der Landtag aufgelöst werden, wofür nach Art. 35 Abs. 1 S. 2 LV die Mehrheit der Landtagsmitglieder erforderlich wäre. Jedenfalls ein Teil der Opposition müsste also einem entsprechenden Antrag zustimmen.
Schlägt aber die Minderheitsregierung von Hannelore Kraft Neuwahlen vor, dürfte es der Opposition schwer fallen, zu begründen, weshalb sie Wahlen scheut und lieber weiter die Oppositionsbänke drückt. Die Initiative liegt also bei der Regierung.
Die hat bereits angekündigt, einen eventuellen Antrag der Opposition beim VerfGH gegen das neue Haushaltsgesetz zum Anlass zu nehmen, die Auflösung des Landtags zu beantragen. Neuwahlen in Nordrhein-Westfalen sind also wahrscheinlicher geworden. Das Urteil aus Münster bietet dazu aber nur einen möglicherweise willkommenen Anlass.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinreich-Heine-Universität Düsseldorf.
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Sebastian Roßner, Nachtragshaushalt in NRW: . In: Legal Tribune Online, 15.03.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2770 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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