Die Scharia gehört zum Islam. Der Islam gehört zu Deutschland, sagt der Bundespräsident. Die Scharia gehört aber nicht in die Bundeswehr, sagt das Verwaltungsgericht Minden. Was denn nun? - fragt Arnd Diringer.
Die Rechtsprechung befasst sich immer häufiger mit Fragen in Zusammenhang mit dem Islam. Dabei spiegeln die juristischen Problemfelder oftmals die gesellschaftlichen Probleme wider. Dies zeigt auch ein aktuell vom Verwaltungsgericht (VG) Minden entschiedener Fall (Urt. v. 04.10.2011, Az. 10 K 823/10 – II).
Dabei ging es um einen jungen Mann, der knapp sechs Jahre zuvor zum Islam konvertierte. Einem Gesprächsvermerk des Militärischen Abschirmdienstes MAD zufolge hatte der heute 28-Jährige die Scharia als bestes Rechtssystem vor der freiheitlich demokratischen Grundordnung bezeichnet. Auch sei Gewalt gerechtfertigt, wenn man unterdrückt werde. Er sehe sich in der Pflicht, Dawa zu leisten, also zu missionieren. Die Bundeswehr hatte den Zeitsoldaten daraufhin mit der Begründung entlassen, er weise nicht die erforderliche charakterliche Eignung auf, da er die freiheitlich demokratische Grundordnung des Grundgesetzes nicht anerkenne.
Das VG sah die Entlassung als rechtmäßig an: Der Soldat habe die grundgesetzliche Ordnung gegenüber der Scharia letztlich als zweite Wahl bezeichnet. Dies könne nicht als bloße Meinungsäußerung gewertet werden, weil er sich dieser Auffassung entsprechend auch im Dienstbetrieb verhalten habe.
Mehr als ein bloßes Rechtssystem
Welche Bedeutung dieser Einschätzung des Gerichts zukommt wird deutlich, wenn man den Begriff der Scharia einmal genauer betrachtet.
Im öffentlichen Diskurs wird sie oftmals als ein gesetzgeberisches Gegenstück zu westlichen Rechtsordnungen angesehen, das durch grausame Strafen geprägt ist. Tatsächlich handelt es sich jedoch nicht um ein zusammenhängendes Gesetzeswerk, sondern um die Idealvorstellung eines göttlichen Gesetzes, das alle Bereiche menschlichen Lebens verbindlich regelt.
Als allumfassende Pflichtenlehre beschränkt sich die Scharia nicht auf solche Themen, die in westlichen Rechtsordnungen geregelt werden, wie etwa das Straf-, Erb- und Familienrecht. Vielmehr bestimmt sie auch das religiöse, politische und persönliche Leben des Individuums. Sie wird von Muslimen als von Allah vorgegebener Wegweiser im irdischen Dasein angesehen, der die Menschen zu ihm als Quelle allen Seins führen soll.
Die Inhalte der Scharia werden vor allem aus dem Koran und der Sunna abgeleitet, den in den Hadithen überlieferten Handlungen des Propheten Mohammed. In der Fiqh, der islamischen Rechtswissenschaft, treten das Prinzip der Idschma, der Konsens islamischer Rechtsgelehrter, sowie Qiyas, eine Art Analogieschluss, als weitere Quellen hinzu.
Ein Islam ohne Scharia: undenkbar
Da die Scharia direkt aus dem Koran und der Sunna abgeleitet wird, ist die in der politischen Diskussion immer wieder eingebrachte Forderung, dass sich Muslime von der Scharia distanzieren sollen, völlig verfehlt. Die Idee eines Islam ohne Scharia ist insofern mit der Idee eines Christentums ohne neues Testament vergleichbar.
Gleichwohl kann die Scharia nicht als ein Beurteilungskriterium herangezogen wurden, um die Verfassungskonformität des Islam und die Verfassungstreue einzelner Muslime pauschal festzustellen. Dem steht schon entgegen, dass die Scharia kein eigenständiges Regelwerk ist, sondern aus anderen Quellen abgeleitet wird. Zumindest Einzelfragen können damit unterschiedlich beurteilt werden.
Für die Bewertung ist daher eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen, bei der insbesondere die divergierenden Auslegungen durch die verschiedenen Strömungen des Islam zu beachten sind. Der Ehrgeiz der juristischen Untersuchung muss also einmal mehr in der Erforschung der Tatsachenbasis liegen.
Mindener Entscheidung ist äußerst brisant
Ob die Entscheidung des VG Minden diesen Anforderungen gerecht wird, wird sich erst anhand der bislang nicht vorliegenden schriftlichen Urteilsbegründung feststellen lassen. Unabhängig davon ist die Entscheidung jedoch von erheblicher Brisanz – auch wenn sich diese erst auf den zweiten Blick offenbart.
Das Gericht hat klargestellt, dass Soldaten bei der Erfüllung ihrer dienstlichen Pflichten ihre weltanschaulichen Vorstellungen grundsätzlich nicht über die bestehende Rechtsordnung stellen dürfen. Dies gilt auch für Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst.
Diese an sich selbstverständliche Feststellung ist von erheblicher Tragweite. Denn nicht nur als radikal angesehene islamische Strömungen wie die Salafisten räumen ihrem Bekenntnis Vorrang vor der deutschen Rechtsordnung ein. Auch andere muslimische Ausrichtungen und Vereinigungen propagieren diesen Vorrang.
Dazu zählt auch der von der politischen Klasse als Dialogpartner geschätzte Zentralrat der Muslime in Deutschland. Auf dem von ihm betriebenen Internetportal www.islam.de wird mehrfach ausgeführt, "dass sich Muslime, die sich in einem nicht-islamischen Rechtsstaat befinden" nur solange "an dessen Rechtsnormen halten müssen, solange diese nicht im Widerspruch zum Islam stehen".
Mehr Mut zum Diskurs
Welche Bedeutung solchen Ausführungen zukommt und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, muss ebenso wie viele andere Fragen Gegenstand eines offenen Diskussionen werden – in der Politik, der Gesellschaft und in den Rechtswissenschaften.
An der Diskussionskultur in Deutschland kann man manchmal jedoch (ver-)zweifeln, auch und gerade, wenn der Islam den Gegenstand der Diskussion bildet. Wenn etwa kritische Meinungen mit dem Begriff "Islamophobie" herabgesetzt, Andersdenkende also als krank bezeichnet werden, erinnert das fatal an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Umso wichtiger ist es, dass sich zumindest die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung um Neutralität und Objektivität bemühen.
Letztlich werden sich die zahlreichen Probleme in Zusammenhang mit dem Islam nur lösen lassen, wenn sich Juristen aber auch Politiker und Journalisten auf die von Martin Kriele in der ersten Ausgabe der Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP 1968, Seite 2) formulierten Grundsätze des demokratischen Diskurses besinnen:
"Zur praktischen Vernunft gehört nicht nur, daß alles Gesagte stimmt, sondern auch, daß alles Relevante in den Blick kommt. Offenheit für das Argument ist die Moral der Demokratie".
Der Autor Prof. Dr. Arnd Diringer lehrt an der Hochschule Ludwigsburg und leitet dort die Forschungsstelle für Personal und Arbeitsrecht. In seiner Dissertation hat er sich ausführlich mit dem Grundrecht der Bekenntnisfreiheit und der Verbots- und Auflösungsmöglichkeit von Bekenntnisgemeinschaften befasst und seither mehrere Bücher und Fachbeiträge zu staatskirchenrechtlichen und religionswissenschaftlichen Themen veröffentlicht.
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Arnd Diringer, Muslime in der Bundeswehr: . In: Legal Tribune Online, 11.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4509 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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