Kammergericht sieht mögliche Diskriminierung: EuGH über­prüft deut­sche Mit­be­stim­mungs­ge­setze

von Dr. Sebastian Fischer, LL.B., B.Sc.

29.10.2015

Im Ausland Beschäftigte sind von Aufsichtsratswahlen ausgeschlossen. Das könnte gegen Europarecht verstoßen, meint das KG Berlin. Stimmt der EuGH ihm zu, steht die Arbeitnehmermitbestimmung insgesamt in Frage, wie Sebastian Fischer erläutert.

Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 schreibt für deutsche Kapitalgesellschaften mit über 2.000 Arbeitnehmern einen zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern besetzten Aufsichtsrat vor. Der Erlass dieses Gesetzes führte zu heftigen politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen, die bis vor das Bundesverfassungsgericht getragen wurden. Dieses verneinte letztlich einen Verstoß gegen die Eigentumsgarantie und andere Grundrechte. In der Folge wurde es um die Mitbestimmung für längere Zeit ruhiger.

In letzter Zeit mehren sich jedoch Stimmen, die die deutsche Mitbestimmung für unvereinbar mit Europarecht halten. Denn nach ganz überwiegender Auffassung sind Beschäftigte deutscher Unternehmen in Betrieben oder Tochtergesellschaften im EU-Ausland bei Aufsichtsratswahlen weder aktiv noch passiv wahlberechtigt.

Die Frage hat politische Brisanz: Entscheidet der Aufsichtsrat etwa über Standortschließungen, sind Arbeitnehmervertreter aus Frankreich, anders als ihre Kollegen in Deutschland, nicht über eigene Repräsentanten einbezogen. Zwar knüpft das Wahlrecht nicht an die Staatsangehörigkeit an, sondern an den Ort der Beschäftigung. Da aber gewöhnlich in Frankreich überwiegend Franzosen arbeiten, könnte eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vorliegen, die gegen das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot aus Art. 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verstößt.

Auch könnte die Arbeitnehmerfreizügigkeit (entgegen Art. 45 AEUV) beschränkt werden, weil Arbeitnehmer bei einem Wechsel ins Ausland ihr aktives und passives Wahlrecht verlieren.

Keine einheitliche Rechtsprechung

Deutsche Gerichte waren zuletzt verstärkt mit diesen Fragen befasst, insbesondere im Rahmen aktienrechtlicher Statusverfahren, § 98 Aktiengesetz (AktG). Ihre Entscheidungen fielen jedoch höchst unterschiedlich aus.

Das Landgericht (LG) Landau/Pfalz (Beschl. v. 18.09.2013, Az. HKO 27/13) und das LG München I (Beschl. 27.08.2015, Az. 5 HKO 20285/14) verneinten einen Europarechtsverstoß unter anderem damit, dass der deutsche Gesetzgeber gar nicht Regelungen für Wahlen durch Arbeitnehmer im EU-Ausland erlassen könne. Umgekehrt meinten das Oberlandesgericht (OLG) Zweibrücken (Beschl. 20.02.2014, Az. 3 W 150/13) und das LG Frankfurt/Main (Beschl. v. 16.02.2015, Az. 3-16 O 1/14), dass die bestehenden deutschen Mitbestimmungsgesetze europarechtskonform dahin ausgelegt werden könnten, dass Arbeitnehmer im EU-Ausland aktiv und passiv wahlberechtigt sind.

Diese konträren Sichtweisen vermitteln nicht gerade ein Bild von Rechtssicherheit. Im Ergebnis führen sie zu unterschiedlichen Aufsichtsratszusammensetzungen und -größen, was in Anbetracht der rechtlichen und wirtschaftlichen Bedeutung inakzeptabel erscheinen mag. Insofern ist es begrüßenswert, dass das Berliner Kammergericht (KG) nunmehr die Frage der Europarechtswidrigkeit dem EuGH vorgelegt hat (Beschl. v. 16.10.2015, Az. 14 W 89/15). Dieser kann nun allgemeinverbindlich hierüber entscheiden.

Fragen von weitreichender Relevanz

Wie der EuGH antworten wird, ist in vielerlei Hinsicht interessant.

Es stellt sich die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber überhaupt eine diskriminierungsfreie Regelung erlassen kann, ohne dabei in die Gesetzgebungskompetenzen anderer Mitgliedstaaten einzugreifen. Denn nach den bestehenden Mitbestimmungsgesetzen (MitbestG, DrittelBG) ist das Wahlverfahren auf betrieblicher Ebene verankert, und für diese ist nach ganz herrschender Meinung der jeweilige nationale Gesetzgeber zuständig. Und überhaupt: wie rechtssicher könnte ein in Deutschland normiertes Wahlverfahren im Ausland durchgesetzt werden?

Erkennt der EuGH einen Europarechtsverstoß, stellt sich auch die Frage der Rechtsfolge. Führt der Anwendungsvorrang des Europarechts zur Unanwendbarkeit der Mitbestimmungsgesetze, wären deutsche Aufsichtsräte nur noch aus Vertretern der Anteilseigner zusammenzusetzen (vgl. § 96 Abs. 1 Var. 6 AktG). Die Diskriminierung einzelner Arbeitnehmergruppen würde dann zu Konsequenzen für alle Arbeitnehmer führen.

Aufgaben für den deutschen Gesetzgeber

Die Entscheidung des EuGH wird sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen. Diese Zeit könnte der deutsche Gesetzgeber nutzen, um im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz eine diskriminierungsfreie, flexiblere und damit insgesamt zeitgemäßere Regelung über die Beteiligung von Arbeitnehmern an unternehmerischen Entscheidungen zu erlassen.

In der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) etwa ist die Mitbestimmung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite grundsätzlich verhandelbar, was einen Hauptgrund für die Attraktivität der SE darstellt. Beim Aushandeln des Mitbestimmungsregimes können Besonderheiten des Unternehmens und der betroffenen Jurisdiktionen berücksichtigt werden. Aufsichtsräte müssen auch nicht aus bis zu 20 Mitgliedern bestehen, wie es die  geltenden Mitbestimmungsgesetze zwingend vorschreiben. Das führt nur allzu oft zu Effizienzverlusten.

Hält der deutsche Gesetzgeber dagegen an den starren Regelungen des geltenden Rechts fest, könnte es in Abwandlung eines Zitats von Erich Fried heißen: "Wer will, dass die Mitbestimmung so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt". Der EuGH könnte dann zum Totengräber der deutschen Mitbestimmung werden.

Der Autor Dr. Sebastian Fischer, LL.B., B.Sc. ist Rechtsanwalt bei Noerr LLP in München. Er führt schwerpunktmäßig streitige Verfahren im Bereich des Gesellschaftsrechts, unter anderem zur Zusammensetzung von Aufsichtsräten.

Zitiervorschlag

Kammergericht sieht mögliche Diskriminierung: . In: Legal Tribune Online, 29.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17377 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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